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Die Verlorenen

Lutz Seiler: Kruso. Berlin: Suhrkamp, 2014.

Hiddensee, die Ostseeinsel mit ihren Steilküsten, die wie die Wellen vor und zurück wandern und von der es deshalb «keine einzige reale Karte gibt», wie es heisst, Hiddensee ist der Ort, an dem sie alle gestrandet sind. Alle diese «Krusos» – so der Name der Titelfigur, und jeder für sich allein, sind sie unterwegs nach dem einen Ziel, nach Freiheit. Am nördlichsten Ende der Insel, im Gasthaus zum Klausner, führt Lutz Seiler sie alle zusammen zu ­einer bizarren Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft. Das tagtägliche und das nächtliche Zusammenleben der Saisonarbeiter untersteht Ritualen – zärtlichen, boshaften, grausamen. Und keiner da, der sich den Vorgaben, die von Kruso und seiner Freiheitsutopie kommen, widersetzen mag oder will. Auch nicht ­Edgar Bendler, genannt Ed, Ich-Figur und letzter, der als Geschirrwäscher zur «Klausner»-Equipe stösst, bevor in jenem Herbst 1989 auch im Gasthaus nichts mehr ist, wie es war.

Ja, man könnte Lutz Seilers Buch den politischen Romanen zuordnen und in diesem Fall der DDR-Endzeit-Literatur. Man läge nicht falsch – aber auch nicht richtig. Sprengt doch dieser Roman die eindeutige Auslegung nach allen Seiten. Was ihn auszeichnet, ist seine Mehrdimensionalität, die Fenster und Türen zu grossen Bedeutungsräumen weit offen hält. Nicht zuletzt der Referenzen wegen, die der Autor mitliefert: Trakl, immer wieder Trakl, Rimbaud, Kafka, Dostojewski – sie sind zugegen in Zitatform, in Figurenzeichnung, als Kapitelüberschrift und Namensgebung, als Echoraum und Ausdruck des Entsetzens vor allem Abscheulichen, das mit dem Leben verbunden ist.

Ed Bendler (Bendler in Anlehnung an Kafkas ­Georg Bendemann aus der Erzählung «Das Urteil») war zuvor als Germanistikstudent mit Trakl beschäftigt. Als «G», seine Freundin, tödlich verunfallt, wirft ihn der Verlust aus allen Sicherheiten und lässt ihn aus Halle, wo er lebt, flüchten und nach ­einem Platz suchen, «der ihn aus allem heraushält». So kommt er nach Hiddensee, wird von Direktor Krombach, einer nicht fassbaren Figur, wie sie von Kafka nicht schöner hätte erfunden werden können, dem Trupp des «Klausners» zugesellt. Dort, wo sich auch «Rimbaud» – sein wirklicher Name wurde vergessen – befindet, und Kruso. Dieser, Sohn so­wjetrussischer Eltern und Dichter, liebte, wie einst Trakl, seine Schwester. Sonja wird vermisst, schon lange, aber nicht betrauert. Denn Kruso hofft nach wie vor auf ihre Rückkehr. Er weigert sich zu glauben, dass sie das gleiche Schicksal erlitten hat wie die vielen Ostdeutschen, die auf der Flucht, die über Hiddensee führen sollte, ertranken, «gerettet» und danach umgebracht wurden, verschwanden, verlorengingen…

Ed verrichtet seine erschöpfende Arbeit bis zum Umfallen. Ekelhaftes, Grauenvolles, das damit und im Zusammensein mit allen anderen verbunden ist, erträgt er stoisch. Als nach der Grenzöffnung alle andern auf ihre je eigene Weise «verschwinden», bleibt er allein im «Klausner» zurück. Jahre später löst er sein Versprechen ein, besucht in Kopenhagen das «Museum der Ertrunkenen», will Sonja ihre Identität zurückgeben.

Ja, es ist riskant, in dieses Buch einzutauchen. Gefährlich, sich vom Autor an der Hand nehmen zu lassen und mit ihm zu gehen. Denn dort, wo er hinführt, Schritt um Schritt, Satz um Satz, leben die Verlorenen, die Verlorengegangenen – die Schiffbrüchigen. In diese Welt gerät unweigerlich, wer sich auf Lutz Seilers dichte, surreale Sprache einlässt, wer sich seiner starken, archaischen Ausdrucksweise aussetzt, die expressionistische Bilderflut zulässt – und sich nicht wundert, wenn er in ihrem Reichtum, Rhythmus und Sog schliesslich selbst verlorengeht.

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