Editorial #13
Liebe Leser Über den viel beklagten «Provinzialismus» der Schweizer Literatur, so scheint es, kann man in diesem Jahr kaum schreiben. Nie zuvor rangierten so viele Schweizer mit aktuellen Werken auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, Peter Stamm war für den International Booker Prize nominiert, und auch Joël Dickers «Harry Quebert» hat sich in Frankreich hunderttausendfach verkauft. Die […]
Liebe Leser
Über den viel beklagten «Provinzialismus» der Schweizer Literatur, so scheint es, kann man in diesem Jahr kaum schreiben. Nie zuvor rangierten so viele Schweizer mit aktuellen Werken auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, Peter Stamm war für den International Booker Prize nominiert, und auch Joël Dickers «Harry Quebert» hat sich in Frankreich hunderttausendfach verkauft. Die von vielen Schweizer Autoren vorgelegten Romane, das darf man kurz vor dem grossen Preisreigen 2013 mit Bestimmtheit sagen, sind in Resteuropa anschlussfähig oder doch wenigstens vorzeigbar.
Aber: Die literarischen Codes der Provinz finden wir in Schweizer Neuerscheinungen trotzdem zur Genüge (Schwerpunkt «Die Sprache ist mein Haus» in Print) – nicht zuletzt entdecken wir den Provinzialismus aber auch im Feuilleton. Beispiel Rezeption Joël Dicker: viele hiesige Rezensenten waren sich einig – sein Roman sei sehr «amerikanisch». Mit dem gleichen Prädikat hatte man mich schon 2012 vor einem Übersetzungsauszug aus «Harry Quebert» für dieses Magazin gewarnt. «Amerikanisch», das ist offenbar keine reine Hochwertdeklaration in diesem Betrieb. Aber: wieso eigentlich nicht?
Ich machte die Probe aufs Exempel und begann mit der Lektüre von William T. Vollmanns «Europe Central», das soeben auf Deutsch erschienen ist. Vollmann legt eine einzigartige, im besten Sinne literarische Totalitarismusgeschichte Europas im 20. Jahrhundert vor, durch die ich mich gerade mit Genuss beisse. Zuvor hatte ich schon Adam Johnsons «Das geraubte Leben des Waisen Jun Do» gelesen. Johnson zeichnet den fiktiven Lebensweg eines nordkoreanischen Waisen nach. Mal skurril-anrührend, mal verstörend, aber stets fesselnd.
So unterschiedlich beide «amerikanischen» Romane sind, eines haben sie gemeinsam: Sie stellen vom Seitenumfang und von der «Welthaltigkeit» her den Leser auf die Probe. Sie fordern mich, sind hintergründig, anspruchsvoll und zeitlos – womöglich gerade deshalb auch ungemein unterhaltend. «Amerikanisch», das ist für mich dieses Jahr: Wuchtig, drängend, herausfordernd, aber durchdacht und mit dem Blick auf den mitdenkenden Leser hin erzählt.
Seien wir ehrlich: Diese Prädikatsammlung haben trotz allem nur wenige Schweizer Romane des Jahres 2013 verdient. Als Leser und Macher einer Leserzeitschrift kann ich mir also mehr «Amerikaner» im hiesigen Betrieb nur wünschen.
Anregende Lektüre!