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EXIL

Angriff aus der Deckung: wie Schriftsteller während des Ersten Weltkriegs aus der Schweiz gegen Krieg und Kriegsbegeisterung anschrieben.

«De profundis clamans, de l’abîme des haines, – j’élèverai vers toi, Paix divine, mon chant. Les clameurs des armées ne l’étoufferont point. – En vain, je vois monter la mer ensanglantée, – qui porte le beau corps d’Europe mutilée, – et j’entends le vent fou qui soulève les âmes: Quand je resterais seul, je te serai fidèle. Je ne prendrai point place à la communion sacrilège du sang.» Romain Rolland, Ara Pacis

Am 28. Juli 1914, als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, war einer der bekanntesten Autoren Europas gerade ferienhalber in der Westschweiz. Romain Rolland sah schnell, welche Katastrophe dieser Krieg bedeuten konnte – und blieb. Tagsüber arbeitete er fortan beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, nach Feierabend schrieb er für das «Journal de Genève» emphatische Artikel, in denen er sich gegen den Krieg und für Verständigung und Frieden einsetzte. Artikel, für deren vermittelnde Inhalte er von französischen Intellektuellen und Offiziellen Verleumdung und Hass erntete; wie in anderen Ländern war die Kriegsbegeisterung auch unter der «Intelligentsija» gross. Dass Rolland, nachdem seine «Schweizer» Artikel unter dem Titel «Au-dessus de la melée» (dt. «Über dem Schlacht­getümmel») als Buch erschienen waren und europaweit Auf­sehen erregt hatten, 1915 der Literaturnobelpreis verliehen wurde – u.a. für den «hohen Idealismus» seines Werkes –, war für Frankreich geradezu ein Affront.

Nobelpreisträger Rolland ist der bekannteste unter mehreren Schriftstellerinnen und Publizisten aus ganz Europa, die während des Ersten Weltkriegs in die neutrale Schweiz emigrierten, um von hier aus gegen den Krieg anzuschreiben. Andere hat die Zeit vergessen.1 In der Schweiz, vornehmlich in Zürich, schrieben unter anderen Leonhard Frank, Ludwig Rubiner, Andreas Latzko, Alfred H. Fried, Hermann Fernau, Ivan und Claire Goll und René Schickele; auch Bern und Genf waren Zentren des intellektuellen Widerstandes von Emigranten. Des Widerstandes einer Minderheit: die allermeisten führenden Literaten und Denkerinnen begeisterten sich nicht nur für den Kampf, sondern stellten sich auch in den (Propaganda-)Dienst ihres Landes. Diese wenigen aber wollten nicht ins Kriegsgeheul einstimmen; sie mochten sich auch nicht anpassen oder in eine innere Emigration gehen. Sie wollten – sie mussten! – mit der Feder gegen das Schwert kämpfen. Immer überzeugt, dass doch einmal wieder die Vernunft in die Allgemeinheit eingeredet werden könnte, wenn sie nur eindringlich genug geschildert würde.

Dafür griffen sie zu drastischen Mitteln: Vielfach sind ihre Romane, Erzählungen, Novellen, Artikel und Dramen von überdeutlicher Beschreibung. Die Verfasser wollten aufrütteln, zu einem Protest anregen – oder wenigstens zum Denken. Einen Kontrapunkt setzen gegen die allgemeine Vertuschung des Tötens und Sterbens an den Fronten.

«Tun Sie [als Literat] alles, was physisch auf die Menschen wirkt. Reden Sie laut und leise, taktvoll und taktlos. Singen Sie, beten Sie, rutschen Sie auf den Knien durchs Zimmer. Nur zeigen Sie, dass Sie die Person von der Sache nicht trennen!» Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel

Die expressionistische Schreibweise der deutschsprachigen Moderne half diesem Aufrütteln. Abgehackte Sätze, Ausrufezeichen, Gedankenstriche, stotternde Schreibweise, schockierende Wörter und Bilder: damit sollte die Wahrheit des Krieges als Verbrechen aufgezeigt werden. In diesen Schilderungen «fällt» der Soldat nicht vornehm fürs Vaterland – er verreckt elendiglich.

«Mitten im Kreise der andern lag er auf den Knien, den Leib vornüber gebeugt, und rollte den Kopf, wie einen fremden Gegenstand, hin und her
auf der Erde. Als er plötzlich wieder hochschnellte, mit einem Wutgeheul, ging selbst durch die Reihe der Verwundeten ein erschrockenes Murmeln. … Die Haut, unfähig sich weiter zu dehnen, war geplatzt. Wie die Strahlen auf einem Kompass liefen die breiten Spalten auseinander, und in der Mitte quoll glühend das rohe Fleisch hervor. Und er schrie!…» Andreas Latzko, Der Kamerad

Die bittere Erkenntnis, die diese Autoren im Laufe des Krieges immer deutlicher erhielten: die Kriegs- und Propagandamaschinerie funktionierte in allen Ländern gleich. Jede Regierung erklärte ihrem Volk, es werde angegriffen. Der Verteidigungskrieg sei unabwendbar und müsse bis zum letzten Opfer durchgestanden werden, denn der Feind trachte nach vollkommener Vernichtung. Da die Emigrantinnen und Emigranten in der Schweiz alle Zeitungen Europas erwerben konnten, lasen sie hier schwarz auf weiss, wie ein und dasselbe Ereignis propagandistisch jeweils anders gedeutet wurde. Die Entlarvung dieser Propaganda spielte denn auch in vielen ihrer Erzählungen eine grosse Rolle. Da wurden Phrasen wie «Heldentod», «Feld der Ehre» oder «Altar des Vaterlands» als leere Worthüllen entlarvt, als Klischees, für die sich Hunderttausende begeisterten – und opferten. Diesen Glauben an Schlagworte wollten die Autoren zerstören.

Publizierten die emigrierten Kriegsgegner zunächst in grösseren Tageszeitungen wie dem «Journal de Genève» oder der NZZ, mussten sie mit der Zeit vielfach mit kleineren Monatsschriften vorliebnehmen – die offizielle Schweiz wurde vorsichtiger und wollte die umliegenden Mächte nicht provozieren. Der Einfachheit halber gründeten sie oft eigene Zeitschriften oder zügelten bestehende mit ins Exil. Publikationen wie die «Freie Zeitung», die «Weissen Blätter», das «Zeit-Echo», die «Friedens-Warte» oder «Demain» bieten eine breitgefächerte Palette von Antikriegsmeinungen und sind bis heute lesenswert.

Mit geradezu greifbarer Verblüffung konstatierten jene, die gegen das millionenfache Töten anschrieben, wie heftig sie selber verfolgt, verleumdet und verunglimpft wurden. Sagte es einem nicht der Menschenverstand, dass die Vernichtung der Jugend Europas nur eine Katastrophe sein konnte? Wie konnten Propaganda, Militarismus, und Patriotismus es schaffen, dass Abertausende sich freiwillig Tod und Verletzung aussetzten?

«‹Für was wird gekämpft und ermordet? Und verstümmelt und gesägt und gelitten? Für was ist dieser Krieg? Für was?› denkt der Stabsarzt
und schneidet erst sauber und exakt ein Pfund Menschenfleisch aus einem Oberschenkel heraus, bevor er [für die Amputation] zu sägen beginnt. Farben kreisen vor seinen Augen.» Leonhard Frank, Die Kriegskrüppel

Vielleicht gerade deswegen ist das Bild, dass einzig der Wahnsinnige vernünftig denkt, so verbreitet – nicht nur in dieser Antikriegsliteratur. Einige Autoren, die in die Schweiz emigrieren wollten und dienstpflichtig gewesen wären, liessen sich von «Nervenärzten» krankschreiben; auffällig viele deutsche Schriftsteller versuchten so, dem Kriegsdienst zu entkommen, nachdem sie bereits eingezogen worden waren. Ob vorgespielte Krankheit oder echte: nicht wenige Intellektuelle verzweifelten ob des Blutbades und ihre Erzählungen widerspiegelten diese Erfahrungen.

«Krank sind jene, die mit strahlenden Augen Siegesnachrichten lesen. Krank ist jeder, der noch denken, sprechen, streiten, schlafen kann, wissend dass andere, mit den eigenen Eingeweiden in den Händen über Ackerschollen kriechen, um wie ein Tier zu verenden. Ich krank? – Und die anderen, die über das Zersetzen, Zerfleischen, Zerstampfen ihrer Brüder, – über das langsame Verzappeln von Menschen im Stacheldrahte hinwegblättern können, wie über weisse Seiten, die sind gesund?…» Andreas Latzko, Der Kamerad

Gleichzeitig wurde dieses Verzweifeln an der geistigen Gesundheit der Welt gegen kritische Autoren gewendet. Wer gegen den Krieg schrieb, war nicht nur ein Landesverräter, sondern wurde als krank denunziert. Pazifisten galten nicht als richtige Männer. Was die Mehrheit forderte und die Propaganda vorzeichnete, war, sich dem Tod in den Weg zu stellen, echte Helden unter Stahlgewittern zu sein.

Und das Kriegsende? – Hier sind unter den Exilautoren zwei Strömungen zu erkennen: Die eine geprägt von der bedrückenden Erkenntnis, dass nun eine ganze Generation Männer von den Fronten heimkehren würde, die nichts als Hass und Töten gelernt hatte: «Mit Grauen bepackt kommen sie an, den erstaunten Blick erstochener, erschlagener Feinde im Gewissen.»2 Wie sollten gerade diese Menschen eine friedliche Zukunft gestalten? Andere Autoren hofften, das vierjährige Blutbad habe zur Erkenntnis geführt, dass die Zukunft radikal anders sein müsse. Dass ein einfacher Waffenstillstand nicht genüge, sondern die grundlegenden Hindernisse für einen Weltfrieden beseitigt werden müssten. Diese Pazifisten reisten 1918 meist unverzüglich in ihre Herkunftsländer zurück. Hatten sie es schon nicht geschafft, den Krieg zu verkürzen, so wollten sie wenigstens beim Wiederaufbau mithelfen. Beim geistigen Wiederaufbau, in dem der Hass keinen Platz mehr haben sollte.

«Es beginnt. Ganz winzig. Alles ist noch zu tun. Wir stehen erst am Anfang einer Vorläufergeneration vom Leben fürs Bewusstsein dessen, was Freiheit ist. Aber schon am Anfang. Denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!» Ludwig Rubiner, Die neue Schar

  1. Und das, obwohl einige ihrer Werke durchaus Ruhm – und finanziellen Erfolg – brachten: Der Erlös von Leonhard Franks Novellensammlung «Der Mensch ist gut» erlaubte es ihm, im Zürcher Unterstrass-Quartier ein Haus zu kaufen. Und von Andreas Latzkos zunächst anonym erschienener Sammlung «Menschen im Krieg» waren schon bald nach der Veröffentlichung allein in der Schweiz 20 000 Exemplare verkauft worden, das Werk wurde zu einem der zeitgenössisch bekanntesten Antikriegsbücher, in 19 Sprachen übersetzt – und natürlich in vielen Ländern durch die Zensur verboten.

  2. Andreas Latzko: Der Kamerad. Zürich: Rascher-Verlag, 1918.

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Anmassung als Chance

Schreibend immer schön nett sein, mit Kritik nie konkret werden: das Leben als Künstler könnte so leicht sein. Doch Literatur, die aus Gleichgültigkeit oder Pflicht geschaffen wird, langweilt sich selbst zu Tode. Ein Intro zum Schwerpunkt «Zorn und Protest».

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