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Wellen Ströme Fluten

Wellen Ströme Fluten
«Die Grosse Welle von Kanagawa» von Katsushika Hokusai. 
Bild: Library of Congress, Prints & Photographs Division / LC-DIG-jpd-02018.

«Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben,
wir sind es und wir sind es nicht.» 
Heraklit

11. September 2015. An den Grenzen Europas setzt sich der Zustrom von Migranten fort. Deutschland kündigt an, 30 000 der 800 000 Geflüchteten aufzunehmen, die an seine Türen klopfen. Ungarn baut eine Mauer um seine Grenze. Frankreich will in den Krieg gegen den Islamischen Staat. Der Islamische Staat greift das syrische Volk an. Das kurdische Volk ist im Krieg mit dem Islamischen Staat. Die Türkei greift das kurdische Volk an. Russland bombardiert Syrien. Syrien bombardiert die eigene Bevölkerung weiter. Die Schweiz schaut zu. Die Wirtschaft bleibt stabil.

(…)

Die Bewohner der Festung wollen die Wälle behalten, die sie vor den Stürmungen von aussen schützen. Also setzen sie Häkchen in Kästchen auf kleine Zettel und werfen die kleinen Zettel in die Urnen für die Meinungen, anstatt sie zu verbrennen und sie in die Urnen für die Asche zu werfen. Auf den Zetteln verlangen sie nach Festungen, Festungen, noch mehr Festungen.

Im Sommer migrieren die Schafherden vom Tal in die Berge. Die Migration der Schafherden wird Transhumanz genannt. Transhumanz ist, wenn Schafe aus dem Tal in die Berge ziehen, um eine andere Luft zu atmen, frischeres Gras zu fressen. Am Zugang zum Berg werden sie weder nach Ausweisen noch nach Passierscheinen gefragt. Aber es kann vorkommen, dass mehrere Herden denselben Berg ansteuern und auf dem Gras desselben Tals weiden wollen. In den meisten Fällen können diese Konflikte im Guten gelöst werden. Es wurden bisher noch keine Lager errichtet, um Vieh abzustellen, das im Tal der anderen grasen wollte. Allerdings wurden Schlachthäuser für die Tiere gebaut, die dazu bestimmt wurden, geschlachtet zu werden. Die lebenden Tiere halten sich in den Tälern auf, der Übergang vom Leben in den Tod wird im Schlachthof verhandelt, wo man frei über die Körper verfügt, die für diese letzte Reise über keinen Passierschein verfügen. Zu Lebenszeiten haben Schafe Bewegungsfreiheit, doch ihre letzte Reise, die lassen wir sie nicht in Frieden antreten. Ob sie Buddhisten sind oder nicht, haben wir sie zu einem zweiten Leben ausersehen, einer Wiedergeburt in den Auslagen der Metzger und den Verpackungen der Supermärkte.

Die Kassen der Festung befinden sich in einem Land, das sich vor der Freizügigkeit der Menschenströme fürchtet, weil sie sein Kapital bis in die ölverschmutzten Meere schwemmen könnten. Deshalb hat das Land Berge gebaut, so hoch, dass kein Boot voller Personen je in der Lage sein wird, an seiner Küste anzulegen.

Die Schafe, die lassen wir in Ruhe migrieren, aber ganz in Frieden lassen wir sie nicht. Bei ihnen ist es nicht wie beim Gott einer monotheistischen Religion, ob lebendig oder tot, auf Erden oder im Himmel, von den Schafen darf man sich ein Bild machen. (…) Und wo man schon das Recht hat, sich ein Bild von den Schafen zu machen und es auch nicht allzu kompliziert ist, an die Bildrechte zu kommen, nutzt man im Land mit den Bergen die Gelegenheit, um sie überall hinzuhängen, an die Wände und auf die Wahlplakate. Die Wahlplakate hängt man auf, wenn es darum geht, wichtige Dinge zu verhandeln, die das Leben jener, die weder einflussreich noch bedeutend sind, auf bedeutende Weise beeinflussen. Auf den Wahlplakaten unterscheidet man zwischen schwarzen Schafen und weissen Schafen. Weisse Schafe dürfen sich frei bewegen und transhumieren. Schwarze Schafe müssen zurück an die Grenze und in Lager gebracht werden, was für die Wahlplakate erfunden wurde, denn bis jetzt gab es keine Lager extra für Schafe.

Das Meer ist in der Lage, 226 000 Arten aufzunehmen, Fische, Quallen, Korallen, Wale. Das Meer bedeckt 70 Prozent der Erdoberfläche, da kann es doch auch ein paar Migranten nehmen. Das Meer muss seine Aufnahmekapazitäten überdenken, wie alle anderen auch. Die Migranten, die gehen dahin, wo man sie hinschickt. Einige stellen einen Antrag, um am Festland auszusteigen, und finden sich im Meer wieder. Man bekommt im Leben nicht immer, was man will.

Die Berge halten warm. Sie beschützen die heissen Quellen, die im Inneren köcheln. Die Dämpfe von aussen, besonders die aus den Ländern, wo die sogenannten heissblütigen Menschen leben, könnten die Bevölkerung, die doch bereits in den Thermalwasserbecken aus allen Poren schwitzt, zu sehr aufheizen. Also müssen die Ströme beherrscht werden. Die Dinge sollen in einem vernünftigen Rahmen bleiben. Es kann schliesslich nicht jeder in Privilegien planschen.

Die Körper werden in den Booten zusammengepfercht, um sicherzustellen, dass diese wirklich voll sind, bevor sie das Ufer verlassen. Wenn die Boote – nachdem sie das Meer und die Wellen und den Seegang und die Stürme überstanden haben – am Fuss der Festung ankommen, sagt man ihnen, dass sie nicht anlegen dürfen, denn das Boot sei schon längst voll.

Ob in der Natur oder auf den Wahlplakaten, die Schafe stehen im Ranking der Globalisierung an erster Stelle. Globalisierung, das ist eine Reihe von Finanztransaktionen, die in alle Richtungen strömen. Ursprünglich war eine Transaktion ein Tauschgeschäft. Zum Beispiel: ich gebe dir meine Schuhe, und du gibst mir dafür deine Schafe. Die Globalisierung hat begonnen, als jemand gesagt hat: So, ab jetzt kann jeder mit jedem tauschen: die, die entweder Schuhe oder Schafe haben, die, die viele Schuhe und viele Schafe haben, die, die gar nichts haben. Diejenigen, die bei diesem Spiel am besten abschneiden, sind die, die nicht viel haben, aber sich bei denen bedienen, die jede Menge Dinge haben. Die Talentiertesten unter ihnen werden Kapitalisten genannt, weil sie in allen Kapitalen Wurzeln schlagen und ihr Kapital gedeihen lassen. Damit ein Kapital gedeiht, reicht es, etwas einen hohen Wert zuzuschreiben, das vorher nicht hoch im Kurs war, zum Beispiel indem man Schafe zerschneidet und sie sehr teuer verkauft, nachdem man sie hübsch auf Plastikschälchen verteilt hat. Kapital gedeihen zu lassen ist wie das Fleisch einer Frucht freizulegen: man presst sie aus und entnimmt das Beste, was sie enthält. Sobald man das Fruchtfleisch entfernt hat, kann der Saft ungehindert fliessen. Mit der Globalisierung fliesst auch das Kapital frei um den Planeten, denn niemand verhindert seine Einreise, man muss einfach nur die Regierungen schmieren. Ein bisschen ähnlich ist es mit dem Blut der Schafe oder auch mit dem Blut der Jungfrauen, mit denen man an manchen Grenzen die Zöllner einschmieren kann.

In Krisenzeiten ist der wirtschaftliche Bedarf im Fluss. Globalisierung, das ist, wenn man Grenzen abbaut, aber nur, um finanzielle Transaktionen möglich zu machen.

Eine Grenze wird gezogen, wenn eine Front zu halten ist. Zur Zeit der Kriege innerhalb der Festung brauchte man die Front, um dem Feind die Stirn zu bieten. Die Kriege wurden beendet, man hat Friedensverträge unterzeichnet, deren Klauseln vom Frieden handelten, den man bewahren sollte, wenn es keine Front mehr geben würde, aber die Grenzen behielt man, man sagte, die Grenzen müssten bleiben, weil sie die Garanten des Friedens sein würden, Grenzen sind Barrieren, dank derer wir die Stirn bieten können, damit jeder seine Schäfchen bei sich hält und die Herde gut bewacht bleibt. Eine Grenze, das ist das, was ermöglicht, eins vom anderen zu trennen, man muss trennen, um unterscheiden zu können, um sagen zu können, dass das eine das eine und das andere das andere ist und dass, auch wenn der eine und der andere sich mögen, der andere nicht ständig beim einen bleiben kann, der eine kann den anderen nicht auf alle Ewigkeit bei sich halten, in der Mathematik heisst es ja auch eins plus eins, und nicht eins plus anders, denn trotz allem, auch wenn man Grenzen überschreitet, letztendlich bleibt der eine der eine und der andere der andere. Es können nicht alle im selben Becken planschen, Schafe bleiben Schafe, Schweine bleiben Schweine.

Das Schöne an der Globalisierung ist, dass man einfach nur Geld zahlen muss, um eine Grenze zu passieren. Jeder kann sich somit in eine finanzielle Transaktion transformieren.

Auch innerhalb der Festung des Körpers gibt es Grenzen. Es gibt Grenzen zwischen Luftröhre und Speiseröhre, zwischen Speiseröhre und Magen, zwischen Magen und Darm, Leber und Darm, Leber und Nieren, Nieren und Blase und so weiter. Einige sind dazu bestimmt, übertreten zu werden, zwischen bestimmten Organen hat man Durchgänge eingerichtet, um einen freien Fluss von Wasser und Nahrung zu ermöglichen. Aber manchmal sind die Grenzübergänge verstopft. Es gibt Staus, das ver­ursacht Krämpfe, Verspannungen, Schmerzen, Rückflüsse. An den Grenzen der Festung ist es ein bisschen gleich: Es gibt Menschen, die nicht passieren können, die warten, die drängen, die unzufrieden sind, die zurückgeschickt werden müssen. Mit all diesen Grenzen, die sich in der Festung des Körpers öffnen und schliessen, muss man schon mit viel Schmerz umgehen. Darum ist es kompliziert, dazu auch noch mit dem Schmerz anderer umzugehen, zusätzliche Schmerzen bei sich aufzunehmen, wo uns doch schon unser eigener Schmerz bedrängt und an unsere Grenzen zurückwirft. Es ist schwer, einen zusätzlichen Schmerz hereinzulassen, sich vorzustellen, dass er sich in unseren
Venen und Arterien einnistet, in unseren Blutkreislauf gelangt, unsere Kanäle und Adern auf Flossen und Booten überquert. Unser Körper, der ist schon genug bevölkert, er wird von Eingeweiden durchquert, die fast so lang sind wie der Tunnel, der von Calais nach England führt, unser Körper braucht das Elend anderer nicht, er hat schon genug Mängel, durch die er leidet, E
isenmangel und Zinkmangel, Mangel an Mineralien und Mangel an Liebe, er braucht den Krieg der anderen nicht, er hat schon rote und weisse Blutkörperchen, die aufeinanderprallen wie die Weisse und die Rote Armee während der Russischen Revolution, ausser dass keines der beiden Lager an die Erlösung glaubt, niemand glaubt an das Ende der Geschichte und das Schlaraffenland mit den nackten Körpern in den Feldern, jeder weiss, dass sie sich ausrotten werden; vernichten und ausrotten.

Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Bader in Zusammenarbeit mit der Autorin.

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Anmassung als Chance

Schreibend immer schön nett sein, mit Kritik nie konkret werden: das Leben als Künstler könnte so leicht sein. Doch Literatur, die aus Gleichgültigkeit oder Pflicht geschaffen wird, langweilt sich selbst zu Tode. Ein Intro zum Schwerpunkt «Zorn und Protest».

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