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Francesco Micieli: «Hundert Tage mit meiner Grossmutter»

Francesco Micieli:
«Hundert Tage mit meiner Grossmutter»

 

Ich werde noch hundert Tage leben, das hat mir eine Stimme im Traum gesagt.» So spricht die 93-jährige Grossmutter in der jüngsten Erzählung des 1956 in Italien geborenen Berner Schriftstellers, Dozenten und Musiktheatermachers Francesco Micieli zu ihrem Enkel. «In diesen hundert Tagen kommst du mich jeden Tag besuchen, und jeden Tag werde ich dir einen Gedanken mitgeben, der dir helfen soll, zufrieden zu sein … Zufrieden, nicht glücklich. Glück interessiert mich nicht.» Der Enkel, in einem Alter, «in dem ich mich in einem Raum aus Kindheit, Jugend und Erwachsensein hin und her bewegte», lässt sich darauf ein: «Es war richtig, dass ich für sie da war. Sie hatte für mich auch alles getan.» Das ist die Ausgangslage, und was sich aus ihr auf knappem Raum entwickelt, ist lesenswert. Denn diese hundert Tage haben es in sich. Fast könnte man bei der Lektüre dieses zutiefst menschlichen kleinen Textes vergessen, dass Micieli sehr zu Recht als ein mit allen Wassern postmodernen Erzählens gewaschener Autor gilt. Getrieben von der Frage «Gibt es ein glückliches Sterben?» verzichtet er hier auf fast alle Tricks und Finessen. Sein Ich-Erzähler wird getragen von der Musik Robert Schumanns, die mit ihrer Botschaft – «Hoffnung und Trauer zugleich» – perfekt zur geschilderten Situation passt. Er weiss mit Bestimmtheit, dass das Leben im Grunde ein «Kontinuum zwischen Traum und Wirklichkeit» ist, und folgt der Sterbenden traurig und staunend in jenen dunklen Wald, «in welchem die Lichtungen immer rarer werden». Traum und Wirklichkeit sind eins, wie bei Calderón oder Grillparzer: «La vida es sueño – das Leben ein Traum.» Dem gebannt folgenden Leser wird vieles vor Augen geführt. Zum Beispiel, dass die Erinnerung so stark werden kann, als würde sie in der Gegenwart stattfinden. Oder dass Politik und Wirtschaft keinem Naturgesetz folgen, sondern Profitinteressen und Machtgelüsten, die Ungerechtigkeiten und Flüchtlingsschübe auslösen. Dass man dem Fremden mit Respekt begegnen und das Fremde in sich selbst annehmen soll. Dass man vom Schweigen der Pferde lernen kann. Und auch, dass man die Anziehungskraft des Wassers dankbar und ergeben hinnehmen sollte, denn: «Wir schwimmen nach Hause, wenn wir sterben.» Micieli ist ein staunenswert belesener Autor, und so kann er es nicht lassen, seinen Ich-Erzähler mit einem literarischen Hallraum auszustatten, in dem Walter Benjamin, Patrick Modiano, Giuseppe Ungaretti, John Cheever und andere Dichter herumspuken. Bedenkt man das Alter des Enkels, mag das ein wenig inkonsequent sein. Aber es gibt der sparsam und einfach erzählten Geschichte eine Tiefe, die ihrem ernsten Thema angemessen ist. Man liest sie in zwei Stunden durch, und sie lässt einen nicht los. Hundert Tage. Oder länger.

Francesco Micieli: Hundert Tage mit meiner Grossmutter. Erzählung. Bern: Verlag Zytglogge, 2016.

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