Gang über die Gipfel
Kurze Sätze über Grate
Es war nicht das Alter, es waren die Bewegungen, die ihm von weitem auffielen. Ruhige, präzis gesetzte Schritte, eine Beständigkeit im Gang, die ein Leben in den Bergen verrät, und dennoch glitt die Gestalt einmal aus, löste etwas Geröll. Der Fels muss dort oben brüchig sein, dachte der jüngere Mann. Aber es war nicht der Fels, der unter dem Alten wegbrach. Als er ihn auf einer Felszinne eingeholt hatte, nickten sie sich stumm zu. Keiner tat einen Schritt zur Seite. Neben ihnen die Leere. Der heisse Wind. Sie blieben kurz stehen, dann war er schnell an ihm vorbeigestiegen.
Die Via Alta della Verzasca ist ein guter Ort, um alleine zu sein. Schon ihr Einstieg bedeutet für die meisten Umkehr. Steinschlägige Couloirs, auf den Graten schwindelnder Tiefblick auf verlassene Hungeralpen. Noch vor wenigen Jahren war dieser Höhenweg alles andere als ein Weg. Er ist es auch heute kaum. Er ist die kühne Verbindung der Schutzhütten Borgna, Cornavosa, Efra, Cógnora und Barone. Weit unten blinzeln vereinzelt Lichter aus der Leventina und dem Valle Verzasca herauf.
Er betrat die leere Hütte und fand den Alten am Tisch sitzend. Die beiden Gipfel dieser Etappe hatte der ausgelassen, und beiden war klar, dass sie sich auf dem Weiterweg jeden Abend in den Stuben dieser Selbstversorgerhütten antreffen würden. «Der Sugo reicht für zwei», sagte der Alte, ohne vom gefalteten Papier aufzublicken, in das er etwas Gras und Tabak krümelte. Der Jüngere hatte nicht viel auszupacken, und so sassen sie bald zu zweit und blickten hinaus in die von den Felswänden herabfallende Dunkelheit. «Ich bin immer auf die Berge gegangen. Selbst als ich in Asien auf Montage war. In Borneo dann eben der Kinabalu. Doch du trägst alles mit hinauf. Auch deinen Tod.»
«Darum kümmere ich mich, wenn’s so weit ist.»
«Seh’ ich genauso.»
«Hast du Gewürze?»
Er packte seinen ausgebleichten Rucksack auf den Holztisch, öffnete die Riemen und zog ein paar Zweige Rosmarin aus der Innentasche. Er reichte sie ihm. Dann hustete er sehr lange, sein Taschentuch verbergend.
«Im Bett wird er mich nicht antreffen. Dafür sorge ich.»
Die nassen Scheite knackten. Hinter ihnen warf der Feuerschein die Schatten übers Gebälk.
«Die Malaien würden sagen, die Ahnen besuchten uns.»
«Etwas Gesellschaft schadet nicht.»
«Ich gehe lieber alleine.»
Schweigend assen sie. Dann rieben sie ihre Teller mit den Resten des Brotes aus und spülten sie im Waschtrog. Es war der Jüngere, der die Flasche fand. Kein Etikett. Als sie sich spät in der Nacht trennten, der Alte, um noch einmal zu rauchen, der Junge, um ein gewaschenes Hemd aus dem Wind zu nehmen, hörten sie noch voneinander. Schritte im unteren Stock. Knarrende Stufen. Geräusche, die auch der Wind hätte sein können. Der Jüngere schlief in einem wankenden, sich drehenden Bett. Öffnete er die Augen, kreiste die Zimmerdecke. Im Traum glitt er durch die Stimme des Alten und über Felstürme mit bröckelnden Simsen. Er roch das süssliche Marihuana des fremden Freundes. Einmal glaubte er zu hören, wie sich der Alte auf dem Abort erbrach. Dabei hatte der kaum getrunken.
Im ersten Licht des Morgens schnürte er die Schuhe im taunassen Gras. Gehen gegen die Kopfschmerzen. Er hatte die Küche geputzt, den Boden gewischt, die nassen Tücher über dem Ofen aufgehängt und die wenigen Abfälle in seinem Rucksack verstaut. Nichts erinnerte mehr an die beiden. Schon gar nicht die Bluttröpfchen, die er in der Latrine als erstes weggewischt hatte.
Sanft legten sich die Wiesen nach hinten, die Farne wogen im frühen Wind. Als er in die Felsen stieg, luden sie ihn mit gut gestuften Vorsprüngen ein, nahmen ihn auf. Später, auf einem moosbewachsenen Band, sah er einen Vogel, der ihn erst musterte, dann flatternd aufstieg und im Himmel verschwand. Auf dem Gipfel rastete er kaum. Er stieg vom Poncione Rosso wieder hinab auf die Via Alta. Und von dort ganz hinab ins Tal. Er wollte dem Alten nicht nicht in der Capanna d’Efra begegnen.
Markus Rottmann
ist freischaffender Texter in Zürich. Zuletzt sind von ihm die Bücher «Calanca – Verlassene Orte in einem Alpental» (gemeinsam mit dem Photographen Oliver Gemperle; Benteli, 2010) und «Black Island» (gemeinsam mit dem Illustrator Thomas Ott; Hammer-Verlag, 2013) erschienen.
Buch:
Roberto Buzzini, Romano Venziani: Sotto la linea dell’azzurro / Die Linie unter dem Blau des Himmels – La via alta della Verzasca. Bellinzona: Edizioni SEV, 2013.