Oscar Peer:
«Eva und Anton / Eva ed il sonch Antoni»
Falun. Ein kleines Bergdorf in der Surselva. Es ist Herbst. Und das Dorf dürstet nach Leben. In einer Sonne, die nach dem Sommer nicht mehr ganz so stark scheinen muss, um der Natur die letzte Kraft zu nehmen, liegt es trocken auf einer Bergterrasse. Scheinbar ruhig, doch die gewaltige Natur verschont niemanden, weder die Natur um uns herum noch die Natur in uns selbst. Denn das Leben, es ist Sünde.
Im Boden zeigt sich eine schmale Lücke. Sie öffnet sich leise, wie ein Mund, gerade weit genug, damit ein feiner Lufthauch entweichen kann. Dieser warme Atem aber vermischt sich mit der Luft, die seit einiger Zeit im Dorf hängt. Sie lockt die Faluner herbei: Nicht alle gemeinsam, sondern einzeln versuchen sie sich – heimlich, leise und bei Nacht – der Öffnung zu nähern. Zuerst scheu stehen sie da, in einigem Abstand zur Öffnung, und können die neue Tiefe nur erahnen. Schritt für Schritt und langsam gehen sie auf die süssliche Öffnung zu – und erblicken bald den gewaltigen Abgrund, der sich unter dem Riss auftut. Wankend stehen sie über der Leere. Langsam bewegt sich die Luft um sie herum. Gierig füllen sie ihre Lungen – und Erinnerungen, wie alles einst war und wie es sein könnte, schiessen in ihre Köpfe. Erinnerungen, vor allem an die Hoffnung, lassen sie langsam wippen und singen. Mit der Luft, die immer schneller um sie kreist, werden ihre Bewegungen und Äusserungen von Sekunde zu Sekunde sonderbarer. Hektisch zittern ihre Körper und den Mäulern entkommt heiseres Röcheln und Stöhnen. Schreie rasen durch ihre Münder, hinein und hinaus, während der Riss unverändert daliegt. Ruhig schliesst er sich erst in jenem Augenblick, da sich die Faluner besinnungslos hineinstürzen wollen. Übrig bleiben geschundene Körper ohne innere Struktur. Gepeinigt ziehen sie sich in ihre Gärten zurück und begeben sich nur noch dann aus diesem Schutz, wenn die anderen dasselbe Schicksal ereilt.
Der Riss, den Oscar Peer in «Eva und Anton» beschreibt, zieht sich quer durch die Faluner Männerwelt, und er entspringt der Ankunft einer jungen Frau, Eva Lanz, in Falun. Sogleich tritt sie die Stelle als Serviertochter in der Dorfbeiz an und füllt diese, Abend für Abend, mit der anwesenden Männergesellschaft. Das Leben, die Sünde, hat seither wieder ihren Platz und weckt das Dorf aus der Ohnmacht, in die es die Herrschaft des Dorfpfarrers Anton Perl versetzt hat. Wie Eva den Männern in der Beiz dient und ihnen ihre Wünsche von den Lippen abliest, dient sie ihnen auch in ihren Träumen und lässt dort die Hoffnung auf Leben und Liebe zurückkehren.
Statt die Geschichte in unerwarteten Wendungen zu versenken, nimmt Oscar Peer den kollektiven Untergang des Dorfes auf den ersten Seiten vorweg. Was folgt, ist ein Stochern in Einzelschicksalen, unangebracht nah, und viel Wut auf den herrischen Pfarrer, der seine Schäflein dem Glauben an Zucht und Moral unterordnet. Peer trennt die Welt in Täter und Opfer. Eine Trennung, die derart überzeugt, dass sich beim Niedergang des Pfarrers nur mit Mühe Mitleid einstellt, sondern eher Genugtuung darüber aufkommt, dass auch der Hirte dem Schicksal seiner Herde nicht entkommen kann.
Oscar Peer: Eva und Anton / Eva ed il sonch Antoni. Zürich: Limmat, 2013.