Lukas Hartmann:
«Räuberleben»
Hannikel baumelt, baumelt am Galgen. Damit endet in Sulz am Neckar die jahrelange Hetzjagd auf diesen Anführer einer Räuberbande, der zuvor über die Grenze nach Chur geflüchtet war, dort gefasst und zum Prozess ins Herzogtum Württemberg zurückgeschickt wurde. Was nach einer Räubergeschichte klingt, geht in seiner Intention tiefer: Hat ein Zigeuner wie Hannikel eine andere Möglichkeit, als in die Kriminalität abzudriften, wenn ihm ehrliche Arbeit allerorten verwehrt wird? Diese Frage beschäftigt heute nicht nur «Weltwoche»-Kritiker, sondern im Jahr 1787 bereits den Schreiber Grau, der beim Hannikel-Prozess Protokoll führt. Besonders nah geht ihm dabei nicht der Räuber selbst, sondern das Schicksal des zwölfjährigen Dieterle, der dabei zuschauen muss, wie sein Vater Hannikel öffentlich gehenkt wird. Welche Energien, so fragt sich Grau, mag das beim Zigeunerjungen freisetzen?
Lukas Hartmann erzählt die Geschichte rückwärts: Der Roman beginnt Jahre nach dem Prozess. Mit einem Brand, dem sämtliche Häuser des Städtchens Sulz am Neckar zum Opfer fallen, und mit der ungeheuren Vorahnung Graus, dass das Feuer etwas mit der Flucht Dieterles aus dem Waisenhaus zu tun haben könnte. Retrospektiv werden eigene Parallelen der Familiengeschichte des Schreibers mit der des Ermordeten sichtbar: Seine eigene Tochter hat Grau zur Cousine abgeschoben. Je länger der Prozess um Hannikel und seine Räuberbande andauert, desto mehr nähert er sich wieder seiner Tochter an. Der Umgang mit anderen Menschen fällt dem introvertierten Schreiber aber alles andere als leicht: Unter seinem Vorgesetzten leidet er, den Avancen seiner Zimmerwirtin weicht er aus. Den warmherzigsten Austausch pflegt er in einem Briefwechsel mit einem Professor aus Kiel, dem er noch nie persönlich begegnet ist. Mit ihm teilt er die Faszination für Insekten. Am Tag der Hinrichtung gesteht Grau, dass ihm das «ganze Menschengeschlecht widerwärtig» geworden sei: «Diese riesige Menge, die hinauf zum Galgenbuckel schwärmte, sich dann auf dem Feld verteilte: gleicht sie nicht dahinkrabbelnden Ameisen, die nur einem einzigen Willen zu gehorchen schienen?»
«Räuberleben» ist ein historischer Roman, der – die geschichtliche Quellenlage ernst nehmend – just in der Zeit spielt, in der das aufklärerische Gedankengut erwacht. In einer Zeit also, in der Mitgefühl und Humanität über ethnische und soziale Grenzen hinweg noch kein Bestandteil allgemeinen Moralverständnisses waren. Hartmann erzählt in seiner gewohnt klaren und nüchternen Sprache und versteht es, durch Perspektivenwechsel und subtile Details diese Zeit und ihre Protagonisten dem Leser von heute erstaunlich nahezubringen. Allegorisch lesen muss man den Roman nicht – der Selbstreflexion im Umgang mit Minderheiten hilft er aber unabhängig vom eigenen Weltbild gehörig auf die Sprünge.
Lukas Hartmann: Räuberleben. Zürich: Diogenes, 2012.