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Dem Himmel entgegen

Wenn meine Freunde die Rekordzeiten bereden, die bei dieser oder jener Abfahrt in den Alpen gestoppt wurden, und ich an die Wunder an Gewandtheit und Geschwindigkeit denke, die sich dabei jeweils darbieten, kommt es vor, dass ich mich erinnere… und über mich lache – mit einigem Stolz, aber auch viel Ironie. Urteilen Sie selbst. Bei […]

Dem Himmel entgegen
Ella Maillart beim Abstieg vom Djengart-Pass, Kirgistan, 1932. © Succession Ella Maillart et Musée de l’Elysée, Lausanne.

Wenn meine Freunde die Rekordzeiten bereden, die bei dieser oder jener Abfahrt in den Alpen gestoppt wurden, und ich an die Wunder an Gewandtheit und Geschwindigkeit denke, die sich dabei jeweils darbieten, kommt es vor, dass ich mich erinnere… und über mich lache – mit einigem Stolz, aber auch viel Ironie. Urteilen Sie selbst.

Bei meinem ersten Versuch, durch die Kontinente in die Mongolei zu gelangen, fand ich mich eines Tages mit vier Begleitern im Himmelsgebirge (Tienschan) von Turkestan nahe der Grenze zu China wieder. Vor uns erhob sich eine phantastische weisse Pyramide in der Kette des Ak-Schiriak-Gebirges: der Sari Tor, ein Gipfel fast 5000 Meter hoch, der noch unbestiegen war; die Höhen sind in diesen fernen Ländern nicht präzise angegeben.1

Der Berg war von solcher Schönheit, dass meine Begleiter nicht von ihm lassen konnten: sie entschieden, ihn zu Fuss zu besteigen. Weil schon der Gedanke an den Aufstieg über meine Kräfte ging, blieb ich im Lager, das wir an diesem Tag in einem meteorologischen Observatorium auf 3600 Metern bezogen hatten. Ich war mitgenommen von einem starken Fieber, in dem meine Begleiter schon den Beginn einer Typhuserkrankung sahen.

Sie aber gingen. Sie biwakierten in ihrem kleinen Zelt, gingen mehr als 13 Stunden und kehrten zurück, erschöpft vom Einsinken in den Schnee, gezeichnet von den gnadenlosen Strahlen der Sonne, aber glücklich.

«Pulverschnee bis zur letzten Wächte…», berichteten sie.

Sowie ich das Wort «Pulverschnee» hörte, stieg ich aus meinem Schlafsack und stellte auf der Suche nach Skiern das ganze Observatorium auf den Kopf. Ich fand drei, die nicht mehr waren als ein paar Bretter, und wählte die zwei, die am wenigsten «verbogen» waren. Sie waren mit einer Eisenlasche und einem Zehenriemen versehen, aber von einer Bindung: keine Spur. Also fertigte ich mit einem Riemenstück und Kupferdraht eine an. Das Holz war freilich unbehandelt, und weil ich voraussah, dass der Schnee unter der prallen Sonne auf halbem Weg zum Sari Tor klebrig sein würde – dort, in der Nähe des Jochs, wo der Frühlingsschnee in Pulverschnee überging –, wachste ich sie grosszügig mit Teer, der eigentlich fürs Dach bestimmt war… das ging ebenso gut wie mit «Klister»!

 

Tags darauf

Im Morgengrauen sattelte ich mit Mattkerim, dem russisch-kirgisischen Übersetzer, die Pferde und gab ihm die klebrigen Skier zu tragen; er schien die Ehre, die ich ihm mit der Übergabe der Wundergeräte erwies, überhaupt nicht zu schätzen… Nach einigen Kilometern Trab erreichten wir die Gletscherzunge und gewannen über die Seitenmoräne weitere Höhenmeter. Der Kirgise schliesslich machte mit den Pferden kehrt, die er weiden lassen und erst acht Stunden später zurückbringen sollte.

Sobald ich die Eiswand erklettert hatte, die die Seite des Gletschers bildet, lief alles bestens. Ich blieb den Spalten fern und stieg über die kleine Hauptmoräne nach und nach aufwärts, fast ohne es zu bemerken. Weit vorne, mitten in dieser weissen, etwas furchterregenden Unermesslichkeit, hielt ich bald darauf einen schwarzen Fels für einen Bären – einige Tage zuvor hatten wir Spuren dieses Tiers gesehen –, und mehr als einmal war ich, derart erschrocken, gezwungen, mir zu sagen, dass es die einfachste Sache der Welt ist, sich tot zu stellen, bis der Bär verschwunden ist.

In diesem Moment glaubte ich den Gipfel viel zu weit entfernt und dachte nur daran, noch einen netten Hang zu finden, um darauf einige Kniebeugen absolvieren und so einen guten Tag Vorsprung auf meinen Wintertrainingsplan gewinnen zu können! Meine Kameraden hatten, so berichteten sie, für ihren Aufstieg die linke Schulter gewählt; ich fand ihre Spuren und auch den Standort ihres Biwaks.

Nach zweieinhalb weiteren Stunden stand ich am Fuss einer der schönsten mir bekannten Eisturmmauern; sie erinnerte mich ein bisschen an den Lyskamm, wenn man ihn vom Grenzgletscher aus sieht. Hier bog ich nach links ab, und der Aufstieg wurde steiler. Ich musste regelmässig anhalten, um tief Luft zu holen. In fünf Stunden Marschzeit erreichte ich die linke Schulter; eigentlich eher ein Joch, das gegen Osten führt.

Von diesem Joch aus schien der Gipfel dann so leicht zu erreichen, dass es lächerlich gewesen wäre, den Aufstieg nicht zu versuchen. Das einzige Hindernis waren Nebelschwaden, die mich, zusammen mit Wind- und Schneeböen, immer dichter einhüllten. Die Kälte wurde alsbald lästig und zunehmende Atemprobleme hinderten mich daran, schnell genug aufzu-steigen, um mich aufzuwärmen. Da ich aber merkte, dass die kurzen Gestöber nie länger als zehn Minuten anhielten, entschied ich, weiterzugehen…

Nun konzentrierte sich mein ganzer Wille darauf, die nächstgelegene «Schulter» zu erreichen… es gab davon eine ganze Reihe, ähnlich wie beim Lauberhorn, wenn man über die linke Seite zusteigt. Diese Passage von Stufe zu Stufe zog sich über mehr als zwei Stunden hin und bald durch Trieb-, bald durch leichten Tiefschnee.

«Ich werde es schaffen! … Es ist fast geschafft!», spornte ich mich immer wieder an. Meine Stöcke störten mich stark; sie bestanden aus zwei Beinen, die ich vom Dreifuss eines Theodolits abgenommen hatte. Dabei war ich zu faul gewesen, sie an den Enden mit Tellerchen zu bestücken – und so ver­sanken sie unhaltbar im Schnee, wann immer ich Anstalten machte, mich ihrer zu bedienen.

Alle umliegenden Berge wurden immer niedriger, lagen schliesslich zu meinen Füssen wie Hügel. Und plötzlich war ich, ausser Atem, auf dem Gipfel… das heisst: 30 Meter darunter, im Windschatten einer gewaltigen buckligen Wächte, einer herrlichen gefrorenen Welle, die mir den ganzen Südteil des Panoramas verdeckte. Auf einem hellgrünen Eisblock sitzend, nutzte ich die erste kurze Aufhellung, um die Welt zu bestaunen.

Im Osten, ich wusste es, versteckte sich hinter einem Haufen aufgeschichteter Wolken auf 7300 Metern der höchste Gipfel, der Khan Tengri2. Den Zwischenraum füllten Wellen unzähliger niedrigerer Berge.

Im Südosten, ganz nahe an der chinesischen Grenze, erhoben sich die felsigen Spitzen der Kokschal-Kette3; im Norden ragte das lange Massiv des Terskej-Alatau auf4, das wir vor einigen Tagen überquert hatten, im Hintergrund, noch weiter nördlich in strahlendes Licht getaucht, die klare Linie des Kungej-Alatau5 mit seinen zahlreichen 6000ern – und jenseits davon, nicht sichtbar, lag die riesige Decke des Yssykköl.6

Jetzt absteigen! Und zwar so schnell wie möglich… in Richtung eines windgeschützten Winkels, in Richtung Wärme, weg von diesem wilden Himmel. Weil ich natürlich jede Minute vergass, dass meine behelfsmässige Bindung rein gar nichts hielt, verwandelte sich jeder begonnene Christianiaschwung in einen spektakulären Sturz; und jeder Versuch, wieder aufzustehen, glich in dem leichten Tiefschnee einem Boxkampf, ausgetragen in einem Daunenbett voll eisiger Federn. Stemmbögen waren im Resultat genauso verheerend und noch gefährlicher, weil bei ihnen die Beine im Moment des Sturzes nicht parallel stehen.

«Safety first» – diese Devise galt nie mehr als jetzt und hier. Indem ich mich tief in die Hocke kauerte, mein Gleichgewicht mit den Armen sicherte und häufig unter Zuhilfenahme der Fäuste bremste, machte ich mich bereit, etwas tiefer immerhin gescheiter zu fallen.

Unter dem Joch, in einer sonnenbeschienenen Mulde, in der mir die Windstille endlich normales Atmen erlaubte, ass ich ein wenig Schaffett mit Schokolade; das Stück bekam mir gar nicht gut…

Auf dem Gletscher dann war der Abstieg leichter; bedauerlich war bloss, dass mich vor meinem Aufbruch niemand in die Geheimnisse der verschiedenen «Stick Riding»-Techniken7 eingeweiht hatte, die an diesem Tag unverzichtbar waren. Der letzte Teil wurde erdrückend und heiss, schliesslich watete ich durch Schneematsch. In Gedanken sah ich das ganze Wasser der Berge in Richtung Taschkent abfliessen, die Baumwollfelder benetzen und vor dem Einmünden in den Aralsee (dem ich vier Monate später entlanggehen sollte) die Wüste durchqueren.

Wie auch immer: vom Gipfel zum «Ziel» – markiert vom Pferd, das auf mich wartete – brauchte ich bei dieser ersten von Longines gestoppten Abfahrt auf der «Rennstrecke» des Sari Tor 45 Minuten… Nein, pardon, gestoppt hatte eine Basar-Uhr für zwei Franken, die ich später Mattkerim zum Geschenk machte: als Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag.

 

 

 

1 Das Himmelsgebirge (chinesisch: Tienschan) erstreckt sich in Zentralasien auf rund 2450 Kilometern Länge über die Staatsgebiete von China, Kasachstan, Krigistan, Usbekistan und Tadschikistan und weist Gipfel von bis zu 7400 Metern auf. Es besteht aus verschiedenen, parallel verlaufenden Ketten; die auf allen Seiten durch andere Massive begrenzte Ak-Schiriak- Gruppe liegt auf kirgisischem Boden im Zentrum des Gebirges und verfügt, im Kerngebiet fast vollständig vergletschert, über zahlreiche bis heute unbestiegene Gipfel. Ihre höchste Erhebung, der namenlose P5150, liegt auf knapp über 5000 Metern. Der Sari Tor, den Ella Maillarts Gefährten 1932 als erste bestiegen hatten, wird je nach Messart mit 5100 oder 4995 Metern angegeben.

2 Der «Himmelsherrscher», der 1931 erstmals bestiegen wurde, ist mit – nach heutiger Messart – 7010 Metern einer der höchsten Berge des Tienschan; auf seinem Gipfel laufen die Grenzen Kasachstans (zu dem er gehört), Kirgistans und Chinas zusammen.

3 Die Kokschal-Tau-Kette ist die mit bis zu 7439 Metern höchste und auch die längste aller Ketten des Himmelsgebirges.

4 Die Terskej-Alatau-Kette, deren höchster Berg mit 5216 Metern der Pik Jelzin ist, erstreckt sich über eine Länge von 375 Kilometern.

5 Die durch Krigistan und Kasachstan verlaufende Kungej-Alatau-Kette weist mehrere hohe Viertausender, anders, als von Maillart angegeben, aber keine Sechstausender auf.

6 Der auf 1609 Metern gelegene Yssykköl ist mit einer Fläche von 6236 km2 der zweitgrösste Gebirgssee der Welt.

7 Bremstechnik, bei der man einen Stock seitlich oder zwischen den Skiern in den Schnee steckt und sich dadurch in hexenähnliche Position bringt.

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Emil Zopfi, photographiert von Marco Volken.
Gipfelpanorama

Die Schweizer Literatur ohne Berge? So undenkbar wie das Wallis ohne Matterhorn! Seit je hat das Gebirge zum Schreiben animiert, den Autoren als Gegenwelt gedient, sie auf Erkundungstouren gelockt und ihre Leidenschaft geweckt. Ein Panoramablick auf einige Gipfel, die aus 400 Jahren Bergliteratur herausragen.

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