Grossartig verkehrt
Rolf Niederhauser: Seltsame Schleife. Zürich: Rotpunkt, 2014.
Einmal so richtig auf alles pfeifen: auf die Familie, die Arbeit und die Beziehung. Ins Auto steigen, am Radio drehen und auf die Strasse Richtung Süden. So ähnlich beginnt ein Gedicht Wolf Wondratschecks und genau so fühlt sich zu Beginn auch der Trip entlang der «Seltsamen Schleife» von Rolf Niederhauser an. Niederhauser hat rund 15 Jahre an dieser über 700seitigen Road-Novel geschrieben, und schon rein physisch steht sie Kopf, zumindest die jeweils linke Seite. Man liest das Buch also einmal rechts durch, dreht es dann um 180 Grad – und kehrt so über 350 ehemals linke Seiten zum Ursprung dieser «Seltsamen Schleife» zurück.
Damit der literarische Handstand nicht zu kopflastig wird, gestaltet sich der Plot zunächst durchaus gradlinig: Der 32jährige Schweizer IT-Spezialist Pit Dörflinger, der am MIT in Cambridge an menschenähnlichen Robotern forscht, rast – statt nach Texas in die Ferien zur Familie seiner Freundin – in Richtung Mexiko. Je weiter gen Süden er vorwärtskommt, desto zwangloser gibt er sich gegenüber Frauen. In Kolumbien verliebt er sich in die schöne Ex-Guerillera Flor Marina. Bei der ersten körperlichen Annäherung zwischen den beiden gebart sich Dörflinger aber derart ungestüm, dass sie sich an eine frühere Vergewaltigung erinnert fühlt – und die Grundfesten von Dörflingers Existenz ins Wanken geraten. Erst verliert der rational denkende Computermensch das Gefühl dafür, was real ist und was fiktiv, dann völlig den Kopf. Ist seine Angebetete vielleicht seine Schwester? Und hat er, der ehemals friedfertige Nerd, nicht gar ihren Freund Ramón erschossen?
Die verstörenden Erlebnisse der Reise von Cambridge nach Buenaventura, Kolumbien, schildert Dörflinger zunächst aus der Ich-Perspektive. Aus dem Versuch heraus, seiner Konfusion Herr zu werden, erfindet der Ich-Erzähler aber alsbald einen Er: Dörflinger beobachtet sich selbst aus der Vogelper-spektive und schildert, wie das Subjekt Dörflinger von Buenaventura in die USA zurückreist, als ob es sich um sein zweites Ich handeln würde. Beide Erzählstränge verlaufen gleichzeitig und in der Form eines Möbiusbandes – einer «seltsamen Schleife»: Aussen- und Innensicht greifen ineinander über und fordern die Gesetze der Logik heraus. So besass Dörflinger zum Zeitpunkt, als er Ramón erschossen zu haben glaubt, gar keine Pistole. Und auch was den Inzest mit Flor Marina betrifft, ist seine Darstellung der Dinge zweifelhaft. Es fragt sich: Warum erzählt uns Dörflinger diese Geschichte voller Ungereimtheiten?
Um es gleich vorwegzunehmen: Eine klare Antwort darauf mag das Buch nicht geben. Die Selbstreferentialität, die schon im Titel mitschwingt, ist aber trotzdem mehr als ein erzählerischer Kniff. Die «Seltsame Schleife» stellt den kühnen Versuch dar, eine Theorie des Bewusstseins in Literatur zu fassen. In essayistischen Einschüben lässt Niederhauser seinen Romanhelden darüber philosophieren, was denn das Bewusstsein, das «verfluchte Programm zwischen den Schläfen», eigentlich sei. Sein Autor lässt zwischen den Zeilen seiner Bewusstseinsphilosophie auch die Autopoiesis-Theorien des Biologen Humberto Maturana und des Systemtheoretikers Niklas Luhmann anklingen.
Trotz dieser durchaus anspruchsvollen Passagen zieht diese philosophische Reise in die Tropen in ihren Bann – auch aufgrund ihrer Sprache. Niederhausers Held erzählt seinen Trip in einem Rhythmus, der in Momenten höchster Lebenslust beinahe zur Melodie wird, jedoch auch etwas Radikales hat: Dörflinger ignoriert die Gesetze der Grossschreibung, verwendet haufenweise Anglizismen und spanische Ausdrücke. Diese Melange ist sprachgewordene Globalisierung und verleiht dem jungen Arbeitsmigranten Dörflinger, der universalen Spannungsfeldern ausgesetzt ist, Kontur. Solche gewinnt auch der Roman als Ganzes: Seine unterschiedlichen Bestandteile fügen sich zu einem aussergewöhnlichen Konzeptwerk zusammen, das Form und Inhalt perfekt miteinander verschleift.