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Franz Hohler:
«Der Stein»

 

Das Groteske, das Satirische, das überspitzt Ironische ist Franz Hohlers Metier. «Der Stein» heisst die titelgebende seiner jetzt vorgelegten zehn Erzählungen. Wer nur ihre Schlusssätze liest, könnte meinen, Hohler sei inzwischen auf dem Weg in die Ewigkeit – oder ins Nirwana: «Ein Stein erinnert sich nicht. Ein Stein träumt nicht. Ein Stein hofft nicht. Man kann nicht einmal sagen, dass er wartet.» Liest man aber nur
ein wenig mehr, wird sehr schnell klar: Von Jenseitigem ist dieser aussergewöhnliche Künstler meilenweit entfernt. Seine neuen Texte verhandeln Gegenwärtiges, indem sie die Grauzone zwischen dem Erwartbaren und dem Zufall, dem Alltäglichen und dem Unwahrscheinlichen ausloten.

Erneut weiss Hohler mit der deutschen Sprache präzise, ökonomisch, sensibel und immer wieder überraschend umzugehen. Die erste Erzählung ist eine der schönsten: Dem vielbeschäftigten Präsidenten eines Landes läuft eines Morgens eine junge Katze zu, und die entspannt und vermenschlicht seinen Arbeitsalltag – und am Ende rettet diese Smeralda sogar sein Leben. Dass der Autor nach wie vor brillante Grotesken schreibt, beweist «Die Raucherecke», absolute Pflichtlektüre für alle Raucher wie für deren Feinde. Unwahrscheinlich, dass den Herrn Balz, der seinen 40. Geburtstag allein in den Bündner Bergen verbringt, am Dreikönigstag vier und nicht etwa drei
Könige besuchen? Der vierte König jedenfalls rettet Balz das Leben, auch wenn sonst niemand von diesem kühnen Hornschlittenpiloten weiss. Zufall? Schon mal darüber nachgedacht, wie sich der Blick auf die Welt verändern kann, wenn der «Juckreiz» (so der Titel der sechsten Geschichte) nicht mehr aufhört? Oder wenn die Stimmen längst Verstorbener aus dem Radio tönen? «Was ist das für ein Sender?», fragt Jöri noch, kurz bevor er selbst zu ihnen gehört. Und was einem an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea stationierten Schweizer Leutnant widerfährt, bevor er auf dem Formular des Tagesrapports unter «Besondere Vorkommnisse» das Wort «keine» einträgt, vergisst man ebenso wenig wie die ergreifende Lebensgeschichte der «Bianca Carnevale». Es sind meisterliche Erzählungen, die Hohler hier versammelt hat – mindestens ihrer acht. Man wird es ihm nach-sehen, dass sich «Ein Nachmittag bei Monsieur Rousseau» (dem Zöllner) und «Der Bleistiftstummel» eher wie brave Durchführungen erzähltechnischer Experimente lesen und arg ausgedacht daherkommen. Sei’s drum! Altmeister Hohler hat einen «Stein» ins Meer der literarischen Neuerscheinungen geworfen, und die dadurch ausgelösten Impulse sind: Wellen des Leseglücks!

Franz Hohler: Der Stein. München: Luchterhand, 2011.

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