Joël Dicker:
«Die Geschichte der Baltimores»
Als Sohn der mittelständischen Goldmans aus Montclair, New Jersey, wünschte sich Marcus in seiner Kindheit nichts sehnlicher, als zu den Goldmans aus Baltimore, Maryland, zu gehören. Denn die reichen und charmanten Baltimores umwehte stets der Hauch des Besonderen. Mit Hillel und Woody, dem Ziehsohn der Baltimores, gründete Marcus die Goldman-Gang. Die drei schworen sich ewige Freundschaft und versprachen, auch in den schwersten Zeiten zueinander zu halten. Doch dann trat ja die wunderschöne und kluge Alexandra in ihr Leben und verdrehte allen
den Kopf.
Viele Jahre später reist Marcus Goldman, inzwischen erfolgreicher Schriftsteller, nach Florida, um sich um den Nachlass seines verstorbenen Onkels zu kümmern. Hier trifft er unverhofft Alexandra, die in der Zwischenzeit zum Musikstar wurde. Doch die Wiedersehensfreude wird von einer zurückliegenden Katastrophe überschattet, die das Ende der Goldman-Gang brachte und bei Marcus wie auch Alexandra tiefe Narben hinterliess. Unvermittelt von der Vergangenheit eingeholt, rekonstruiert Marcus die Ereignisse für sein neues Buch: eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Eifersucht, Sein und Schein.
Irgendwann schwant es Marcus, dass seine Wahrnehmung der Baltimores nie der Realität entsprochen hat. In diesem Zusammenhang erhält der Roman eine unerwartete Doppelbödigkeit, die die zuvor von Marcus idealisierte Erinnerungserzählung in ein neues Licht rückt. So tritt die Diskrepanz zwischen Sein und Schein für Erzähler und Leser gleichermassen zutage. Leider übertreibt es Dicker bei dieser Gelegenheit mit den Wendungen, was zu Verschleisserscheinungen nicht nur seitens der Leser führt. Komplett zur Seifenoper wird der Roman, wenn er sich der Beziehung zwischen Bestsellerautor Marcus und Popstar Alexandra widmet. Ihre Herz-Schmerz-Dialoge stören die Atmosphäre.
Joël Dicker entfaltet in seinem neuen Roman eine dramatische, packende Familienchronik. Die Erzählung portioniert er in leserfreundliche Kapitel und wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen. Das liest sich leicht, lässt aber individuellen Stil vermissen. Für Ecken und Kanten gibt es in Dickers Prosa keinen Platz. Das Buch ist süffig, ja – es wagt sich aber auch kaum je aus der Komfortzone gediegener Unterhaltungsliteratur heraus. Der Roman wirkt zu durchkalkuliert. Als warte Dicker nur noch auf einen Anruf aus Hollywood, Kalifornien.
Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores. Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Alvermann und Brigitte Grosse. München: Piper, 2016.