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Martin R. Dean:
«Falsches Quartett»

 

Dass im Reich der Ideen etwas bereits ist, nur weil es vorgestellt ist, wissen wir spätestens seit Becketts theologischer Auskunft in «Warten auf Godot»: Godot ist, weil er erwartet ist. Wie aber verhält es sich mit dem Leben? Ist bereits Leben, nur weil «wir alle auf das Leben warten», wie es an einer zentralen Stelle in Martin R. Deans «Falschem Quartett» heisst? Gewiss nicht. Noch gibt es Leben nur im Wartezimmer, wir aber stellen fest: Das Buch stellt die richtigen Fragen zum falschen Leben, und ihm gleich tun es seine Protagonisten: Da ist Brenner, Gymnasiallehrer, der von der Wirkmächtigkeit der Literatur für ein gutes Leben überzeugt ist und gegen die Windmühlen seiner konformen Schülergeister kämpft. Da ist seine Frau Lisa, die beim Eislaufen ihr Kind verlor, von der Gefährdung des Lebens gebrandmarkt ist, jetzt ihre Stelle als Bildredaktorin verliert und sich der Kunst zuwendet. Und da sind in diesem Wahlverwandtschaftsroman auch Deniz und Nadia, beide Schüler Brenners. Während der aus der Türkei stammende ­Deniz an der Schweiz und ihren «geraden Kanten» leidet und von Lisa verführt wird, ist Nadia, in die sich Brenner (bis zum Schulskandal) verliebt, von Fragen an das Leben hin- und hergerissen. Sie legt schliesslich Hand an, weil sie die philosophische Frage mit durchaus zeitdiagnostischem Bezug nicht beantworten kann: «Was ist besser: am Leben sterben oder sterbend leben?»

Das ist die Zentrale dieses Romans, die Sinnfrage ans ­Leben, das stets beschädigt daherkommt und tote Seelen, zeitgenössische Zombies erzeugt – auch und gerade in den Schulen. Etwas Abgründiges transportiert dieser Roman, an den Rändern der blinden Normalität beginnt es zu fransen, überall durchkreuzen glotzende oder tote Tiere die menschliche Perspektive. Man wird das Gefühl nicht los: etwas kommt mit dem Lauf der ­Moderne nicht mit, trotz aller Propädeutik auf das Leben. Die sich als Por­trätistin etablierende Lisa sieht deshalb bald nur noch weisse Flächen statt Gesichter. Kaum etwas könnte unsere Verhältnisse, in der die Serie, auch in der Kunst, über das ­Individuierte, also das Gesicht schlechthin, überhand gewinnt, trefflicher abbilden. Wenn Dean also von einem gewünschten «Paradigmenwechsel in der Kultur» spricht, wie er es anlässlich der Vernissage im Literaturhaus Basel tat, dann auch, weil wir einer Kultur der ständigen Reproduktion anheimgefallen sind. Und diese steckt nicht nur die Bilder und Dinge, sondern auch den Umgang mit dem Menschenpark an. Aber es gibt auch ein Licht am Ende dieses Tunnels: denn jenseits des von Schuld geplagten Deanschen Quartetts liegt oder läge das Rettende in der bilderlosen Achtung des Individuierten, wie es dann die Ausstellung Lisas veranschaulicht: «My name is your name» und «Still faces, still love». Das ist die Perspektive, in der das beschädigte Leben wieder seine Augen aufschlägt, in der Brenner, Lisa, Deniz und Nadia, ja die Menschen überhaupt, aber auch die Kunst, sofern sie sich bilderlos als Entwurf ans Individuum hält, jenseits von Schuld zu sich und zum anderen finden. «Falsches Quartett» ist ein grossartiger Roman, mit einem Bewusstsein für die Gefährdung des Individuums bis zu den dunklen Rändern dieser Zeit.

Martin R. Dean: Falsches Quartett. Salzburg/Wien: Jung und Jung, 2014.

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