Martina Clavadetscher:
«Knochenlieder»
Es beginnt mit einer Rückkehr zur Zivilisation. Jakob Grün und Fredy Blau sind aus ihrer abgeschiedenen Bergsiedlung ausgezogen, um in dem kleinen Dorf weiter unten im Tal das Nötigste für ihre Kommune einzukaufen. Vier Familien leben in der winzigen Siedlung, «sie gelten als Abgemeldete, sind somit Unvermisste, Ungesuchte», ohne Strom oder Zeitung, dafür mit Gemeinschaftsküche und Jahresplänen. Alles gehorcht dem Kreislauf der Natur. Mit der Geburt von Rosa Grün bricht dieser Zyklus: sie ist ein «Stachelkind», mit Hilfe von eingeschmuggelten Hormontabletten gezeugt, und sie wirkt wie ein Eindringling in dieser abgeschotteten Welt.
Bis hier könnte man meinen, Martina Clavadetschers Roman «Knochenlieder» sei ein ironischer Abgesang auf kitschige Heimatromane und Ideale der Umweltbewegung – wäre da nicht die Tatsache, dass die Handlung im Jahr 2020 angesiedelt ist und im Dorf Nachrichten über Krieg und politische Unruhen zu hören sind, während Fliegerstaffeln Kondensstreifen über die Gipfelidylle ziehen. Ein Schelm, wer Parallelen zur brenzligen Gegenwart zieht. Das Ganze verlagert sich im zweiten Teil des Buchs zwanzig Jahre weiter hinein in die Zukunft: auf einmal folgen wir Pippa, einer Hackerin, die versucht, aus einer dystopischen Überwachungsstadt zu fliehen. Nach und nach enthüllen sich die Zusammenhänge zwischen den erzählerischen Ebenen.
Clavadetscher schreibt poetisch, ohne ins Schwärmen zu geraten: «Der Herbst kürzt die Tage. Die Sonne scheint schief.» Solche Sätze funktionieren. Die knappen Naturbeschreibungen und Dialoge des ersten Teils verwandeln sich in der zweiten Romanhälfte zu Chats zwischen Pippa und ihren Partnern. Das ist ein schöner Übergang und Kontrast. Doch so packend die Geschichte stellenweise ist, bei den Figuren funktioniert die Kürze nicht. Haupt- wie Nebencharaktere bleiben nebulös, werden bestenfalls angedeutet. Hier hätten Ausführlichkeit und Tiefe gut getan. Gesamthaft überzeugt der Text trotzdem – und zwar durch seine unerschrocken gewagte Gestalt, die Prosa und Lyrik, Märchen und Hackerslang teils nahtlos ineinander übergehen lässt. Martina Clavadetschers «Knochenlieder» sind eine Mischung aus Heimatroman und Cyberpunk, die verstört und zum Denken anregt. Ein Wagnis, das völlig zu Recht für den Schweizer Buchpreis 2017 nominiert war. Es handelt sich weder um den Gegensatz zwischen Kultur und Natur noch um den x-ten Versuch, eine finstere Zukunft aufzuzeichnen. Stattdessen folgt Clavadetscher einer leisen Poesie, einer Melodie, die tief im Inneren ertönt oder die begraben irgendwo unter der Erde liegt. Mit Geduld kann sie überall gefunden werden. Selbst in den Wirren eines drohenden Kriegs oder in neonbeleuchteten Stadtschluchten.
Martina Clavadetscher: Knochenlieder. Hitzkirch: edition bücherlese, 2017.