Motel Terminal
Gleich neben dem Ortschild von Spreitenbach steht es, zwischen Zürich und dem Aargau, mit Schlagseite Aargau: ein altes Motel, fast wie aus einem amerikanischen Film. Aber eben nur fast. Der Beton ist mürbe, die Gäste rar; die guten Jahre hat es hinter sich. Verblasst ist es wie die Ära, in der es einst entstanden ist, […]
Gleich neben dem Ortschild von Spreitenbach steht es, zwischen Zürich und dem Aargau, mit Schlagseite Aargau: ein altes Motel, fast wie aus einem amerikanischen Film. Aber eben nur fast. Der Beton ist mürbe, die Gäste rar; die guten Jahre hat es hinter sich. Verblasst ist es wie die Ära, in der es einst entstanden ist, damals, als die prüden Zwingli-Zürcher sich am Konkubinatsverbot festkrallten wie am Rockzipfel einer Mutter. Da waren die Aargauer, wer hätte das gedacht, lockerer. Also zogen unzählige progressive (oder anderswie nicht heiratstaugliche) Zürcher Pärchen in diesen Flecken Allerweltsland hinter dem Motel und pendelten nach Zürich. Hier draussen bekamen sie einen massigen Wald aus Plattenbauten, ein eigenes Shoppingcenter – und ein Motel für den anonymen Seitensprung. Doch kaum schaffte es auch Zürich in die Neuzeit, begann der Exodus.
Die Bauten sind geblieben, werden von anderen bewohnt und verschandeln – allen Renovationsversuchen zum Hohn – weiterhin alles, was in ihrem Schatten steht. Trotzig hat zwischen dem Beton und den Kunststoffverschalungen ein ländliches Dorf überlebt, ein Paralleluniversum, das hartnäckig Idylle generieren will.
Was für ein wunderbarer Nährboden für Geschichten mit doppelten Böden und dunkeln Geheimnissen! Sie spriessen hier förmlich wie Pilze aus modrigem Grund.
Als mir eine Freundin die Geschichte des Motels erzählte, das einst ihrer Grosstante gehört hatte, wusste ich gleich, dass die Story, die ich schon so lange schreiben wollte, ihr Zuhause gefunden hat: Spreitenbach, aus dem ich der erzählerischen Freiheit zuliebe Breitenach gemacht habe.
Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter seit der Geburt eingesperrt hält. Aus Liebe. Eine monströse Grenze trennt das Innere des Hauses von der bösen «Welt da draussen». Sie ist gleichzeitig die Trennlinie zwischen Abartigkeit und Normalität, die sich langsam verschiebt, bis die Mutter ganz mit der Welt bricht – ihr Kind an der Hand.