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Nicht nach Florenz

 

Wir wollten Sonne, wir wollten Wärme. Es war kalt, es war Dezember. Wir buchten einen Zug nach Rom, das lang ersehnte Urlaubsziel. Fuhren durch die Landschaft, liessen den Blick schweifen, gedankenversunken. Milano, Reggio Emilia, Bologna, bald sind wir da.

«Wo sind wir?», werde ich gefragt, als der Zug langsamer wird. «Weiss nicht», antworte ich. Dann sehe ich das Bahnhofsschild. Florenz. Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Ich versuche mich zu erinnern. An die Strassen, die Menschen. Doch meine Erinnerungen sind verschwommen, fühlen sich fern und fremd an, als ob es nicht die meinen wären.

Florenz. Es hätte auch der Bahnhof einer beliebigen anderen Stadt sein können. Denn dieser Ort, er sagt mir nichts. Sollte ich nicht etwas empfinden? Heimatgefühle? Sollte ich nicht sagen können: «Schau mal, hier hat Jessica gewohnt. Und dort hinten ist das Freibad. Da waren wir im Sommer immer schwimmen»? Wo Jessica und das Freibad sind, weiss ich nicht. Ich bin nie wieder zurück.

Und jetzt, jetzt will ich nur weiterfahren. Weg von hier, weg von den Gedanken, die mich daran erinnern, dass ich nicht weiss, wo ich hingehöre. «Sollte man nicht wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man geht?», fragt eine Stimme in meinem Kopf. Ach, fick dich doch.

Sehnsucht

Wir zogen ständig um. Drei Jahre an einem Ort, mehr nicht. Als verspürten meine Eltern einen unablässigen Drang nach Veränderung: Hauptsache, nicht niederlassen, sich nicht einlassen. Das neue Land schien immer besser, das andere immer erstrebenswert. Was auch immer dieses andere sein mochte. «Weisst du, dann hast du überall Freunde. Ist doch toll, nicht?», sagten sie immer. Als ich sieben war, als ich dreizehn war, als ich sechzehn war. Als wir in die Toskana zogen, nach Friesland, ins Rheinland. Die Aussage stimmte auch immer. Ich lernte neue Leute kennen, lernte ihre Sprache. Einmal, zweimal, dreimal.

Sie sehnten sich nach dem, was sie nicht hatten. In Italien war es die deutsche Pünktlichkeit, in Deutschland die italienische Lockerheit. Und hatten sie das eine oder andere gefunden, verabscheuten sie es sogleich. Plötzlich waren die Deutschen zu wenig flexibel, die Italiener zu chaotisch. Gründe, um weiterzuziehen, gab es immer. Also ging es weiter. Oft schnell, oft überstürzt. Das Haus in Italien steht seit Jahren leer. Das Dach ist eingefallen, der Garten überwuchert. Wir liessen es einfach zurück. Wie eine Vergangenheit, von der man nichts mehr wissen will. Die Familie genauso: Tante und Onkel, den älteren Bruder. «Ich mach das nicht mehr mit», sagte er, als er volljährig war. Danach sagte ich es, und mein jüngerer Bruder nach mir.

Gründe gab es immer. Meistens waren sie oberflächlich, es waren Klischees. Die schlechten Strassen, der kalte ostfriesische Wind. Klischees, in denen man verhaftet bleibt, weil es einfach ist. Und auch ich verfalle ihnen, weil sie alles sind, was ich habe. Ich habe nie lange genug an einem Ort gelebt, um ihn wirklich kennenzulernen. Ich habe ihm auch nie eine Chance gegeben, hielt ihn immer auf Distanz. Denn ich wusste: Bald müssen wir wieder Abschied nehmen.

Die Koffer waren immer gepackt. Und sie waren nie leicht. Vollgestopft mit emotionalem Ballast, der sich über die Jahre angesammelt hatte, dessen man sich nie ganz entledigt hatte und den man so von einem Ort zum anderen trug. Die Koffer waren nie leicht. Meine Eltern hatten eine Vorliebe für grosse, schwere Möbel. Als wollten sie doch sesshaft werden. Sie wurden es nie.

Also ging es weiter. So oft, dass ich nicht mehr weiss, wie lange wir an einem Ort gewohnt haben. Waren es acht Jahre im Tessin? Neun? Vielleicht waren es auch nur sieben. Vielleicht spielt es keine Rolle. Die Jahreszahlen vermischen sich. Und mit ihnen die Erinnerungen.

Einige sind noch da. Ich will sie nicht abrufen, habe sie in einem grossen Schrank verstaut, den ich nicht öffnen möchte, nur mühsam umherschiebe. Wie meine Eltern es mit ihren schweren Möbeln taten.

Jetzt öffne ich ihn, denke zurück. An unser Haus im Tessin. An die hellblauen Fliesen im Bad, die mein Vater liebevoll verlegt hatte, als hätte er vor, zu bleiben. An das Bidet, an dem ich mir als Kind mal den Kopf gestossen habe. Mein Bruder hielt mir stundenlang eine Packung Eis auf den Nacken. «Für dich bin ich den ganzen Samstagabend zu Hause geblieben», sagt er noch heute, immer mit einem Augenzwinkern. Danke, Bruderherz, ich zahl die nächste Runde.

Damals war das wohl zu Hause. Doch diese Zeit ist lange her. Was bringt es mir heute, dieses Damals? Ich werde wütend, schliesse den Schrank wieder.

Schweigen

Über damals reden wir nicht. Auch nicht über das Damals meiner Eltern. Meine Mutter kommt aus Süddeutschland. Sie spricht nie darüber. Mein Vater aus Italien. Er spricht nie darüber. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er mit seiner Familie in die Schweiz. Da war er wohl fünf oder sechs Jahre alt. Doch er durfte nicht zur Schule, nicht mit den anderen Kindern spielen, durfte nicht gesehen werden. Der Familiennachzug wurde erst später erlaubt. Was das für ihn bedeutete, darüber mutmasse ich nach dem dritten Bier mit meinem Bruder. Dann schweigen wir. Weil es leichter ist. Weil es zu schmerzhaft ist, sich daran zu erinnern, dass man eigentlich nichts weiss. Dass man nicht versteht. Manchmal versuchte ich es. «Wie war denn Nonno so?», fragte ich meinen Vater. «Er war ein grosser, starker Mann. Alle respektierten ihn.» Das ist alles, was ich weiss. Und eigentlich ist das nichts.

Als ich meinen Grossvater das erste Mal sah, war ich vier Jahre alt. Das war auch das letzte Mal. Meine Nonna lebte etwas länger. Doch sie erzählte nie, das tat mein Vater für sie. Aber immer Unpersönliches, immer Belangloses. Auch meine Mutter spricht nur selten, hüllt ihre Vergangenheit in schweres Schweigen. Ich wüsste gerne, warum. Doch irgendwann ist es zu spät. Zu spät für Fragen, zu spät für Antworten. Und man gewöhnt sich an die Leere, die die eigene Vergangenheit füllt.

Rückzug

«Woher kommst du?», werde ich manchmal gefragt. Ich hasse diese Frage. Die Antwort könnte so einfach sein. Nur ein Wort, los, wähle es aus. Komm schon, das kann doch nicht so schwer sein. Und? Nachgedacht? Für welches entscheidest du dich? Für keines. «Ich wohne hier, aber eigentlich bin ich nicht von hier», antworte ich. In Deutschland kam ich aus Italien, in Ita­lien aus Deutschland. Manchmal war es der Ort, an dem ich zuletzt gelebt habe. Manchmal war es auch einer, an dem ich seit Jahren nicht gewesen bin. Was spielt es für eine Rolle? Ich kenne die Antwort sowieso nicht. So stellte sich das Gefühl eines Fremdseins ein, das ich mir selbst auferlegt hatte. Wie es schon meine Eltern taten. Und ich habe nichts daraus gelernt.

«Woher kommst du denn?», frage ich zurück. «Zürich.» Ich werde wütend. Doch eigentlich bin ich neidisch. Neidisch auf die Kindergartenfreunde, den vertrauten Schulweg, auf die Stadt, die man in- und auswendig kennt. Auf die Stabilität, die ich niemals hatte. Ich möchte ankommen, doch ich weiss nicht, wie es geht.

Der Urlaub ist fast vorbei. Wir haben noch Zeit für eine Stadt, bevor es zurück in die Kälte geht. Mittlerweile ist es Januar. «Wo wollen wir hin?», werde ich gefragt. – «Nicht nach Florenz.»

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