Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Poesie

Ausgewählte Lyrik.

Poesie
Massimo Gezzi, fotografiert von Mario Del Curto.

Gruss von V.

«Schickt mir eine E-Mail, wann immer ihr
ein Gedicht lesen wollt, einfach so aus Spass:
Benachrichtigt mich, denn so fühle ich mich
weniger einsam, ihr gebt mir die Illusion
zu glauben, dieser Beruf sei noch für irgendetwas
nützlich.» Seien Sie beruhigt, Herr Lehrer,
sollten Sie keine Post erhalten, dann nicht
wegen dem Antispam, der nicht funktioniert.
Nein, weil mich Gedichte einfach zum Gähnen
bringen: kein Leben, kein Glück
zwischen den Seiten, die Sie uns vorlesen.
Die eine oder andere (unnötige!) Träne,
doch auch viel Unsinn, alles unwichtiges Zeug.
Manchmal, wenn ich ein Gedicht lese, glaube ich
in meine Facebook-Seite zu schauen, alles nur
ein bisschen schwieriger, als wollte man mich ärgern.
Aber sagen Sie mir es ruhig, wenn ich
nicht recht haben sollte – und warum wird das,
was Sie schreiben, einfach so, ohne Reime
und mit Zeilenwechsel einfach dann,
wenn es Ihnen passt, warum wird das
‹Gedicht› genannt, und was ich hier so schön
auseinandergesetzt habe – nicht? Und machen
Sie nicht dieses saure Gesicht, jetzt, wo ich Ihnen
vielleicht, gelegentlich, uotzäppe…»

 

 

Beichte von A.

«Aber Sie, wie würden Sie sich
vor sprechenden Mauern fühlen,
Leuten, die sich nicht einmal
an deinen Namen erinnern, die dich
auf dem Korridor nicht erkennen, dann
aber entscheiden, wie viel du wert bist?
Es ist, wie wenn mein Leben am Abend
des Sonntags stillstände und erst
am Freitag wieder begänne. Was meinen Sie,
ist es mehr Schule oder Gefängnis,
ein solches Leben?»

 

Der Schrei der Sibylle

                                          4. Juli 2015

Nur noch wenig bis zum präzisen Augenblick:
noch ein paar Grade heisser,
so dass sich der Schatten auf der Wiese verkürzt
und die Nase und die Lippen
runder werden, dann werde ich meinen unsichtbaren
Mund aufsperren, werde den Weltraum verschlucken
und mit dem Wehen des Windes werde ich
aus mir herausschreien, was ich euch eben sage
und was ich seit Jahrhunderten in mir trage.
Sie ist also gekommen, die Minute:
Macht, dass die Worte euch klar
im Geist widerhallen.

(Jetzt, wo ich es gesagt habe, wisst ihr es.
Jetzt, wo ich es gesagt habe, könnt ihr nicht mehr
dergleichen tun: adieu, ich kehre ins Nichts zurück.)

Anmerkung:
Dieses Gedicht bezieht sich auf ein merkwürdiges Phänomen in den Sibyllinischen Bergen, in den Marken. Eine Gruppe von jungen Leuten fotografierte am 4. Juli 2015 das Profil eines Kopfs mit aufgesperrtem Mund, das sich an der Flanke des Monte Sibilla gebildet hatte. Als «Gesicht der Sibylle» ist das Phänomen in die lokale Presse eingegangen.

 

Im Brachsenschwarm

Es sind Brachsen, spitz oder verwickelt.
Hundert, oder vielleicht auch mehr, reglos
auf halber Höhe im Wasser, um mich, der ich
sie beobachte und nicht vorrücke, versammelt.
Sie sind anders, gehören zu einem Reich,
das nur nominell mit meinem gleich ist,
sie schauen mich an und versuchen zu verstehen,
ob ich ein Raubfisch bin oder nur
ein verlangsamtes grosses Tier, etwas
was einer Schildkröte ähnelt, einem Rochen.
Gleichgültig? Neugierig? Nichts von all dem?
Ihr Anderssein ist gleich dem meinen, während
ich den Kopf nach rechts und nach links
bewege, auch unter mich, zum Grund hin,
und ihre fluktuierenden Ovale wahrnehme,
ihre Symbiose, so fremd und doch
familiär, fast wie unsere, wenn wir am Abend
vom entlegenen Strand wieder heimkehren
und das plötzliche Licht zweier Scheinwerfer
uns beunruhigt, versichert, als äusserte es
einen Verdacht.

Ausgezeichnetes Werk: «Il numero dei vivi.» (Rom: Donzelli, 2015)

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!