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Stadtschreiberblues

Stefanie Sourlierüber ihre Zeit als Stadtschreiberin der oberösterreichischen Stadt Wels.

Thomas Bernhards «Wittgensteins Neffe» beschreibt der Erzähler die Odyssee einer Suche nach der «Neuen Zürcher Zeitung», die weder in der «weltberühmten Festspielstadt» Salzburg, den ebenso weltberühmten Kurorten Bad Reichenhall und Bad Hall noch in Wels erhältlich ist. Im nicht ganz so weltberühmten Wels gibt es aber zumindest ein Wirtshaus, wo der Erzähler und Wittgensteins Neffe auch landen, um eine Hymne auf die Kulturlosigkeit Oberösterreichs anzustimmen. Wels war mir denn auch vor meiner Zeit als Stadtschreiberin nur aus den Texten Bernhards bekannt, «Wels nicht Wales», sagte ich zu meinen Freunden, «Wels wie der Fisch». Dort gebe es eine berühmte Landwirtschaftsmesse, eine berüchtigte Drogenszene und neuerdings eine von der FPÖ dominierte Stadtregierung, las ich.
«Warum sind Sie nach Wels gekommen?», wurde ich auch nach meiner Ankunft immer wieder gefragt, was mir nicht ganz leicht zu beantworten schien, vielleicht wirklich aufgrund meiner grossen Liebe zur österreichischen Literatur, von Aichinger über Bernhard und Bachmann, Handke, Jelinek, Musil und Mayröcker, Stifter oder Schnitzler bis zu Setz, Stangl und Sargnagel. Seit jeher kann ich anderswo auch besser leben, denken und schreiben, die sogenannte Heimat scheint aus der Ferne – melancholisch verklärt – erträglicher als in der Enge selbst. Das ist der Grund dafür, warum ich sogenannten Aufenthaltsstipendien gegenüber nicht nur skeptisch bin. Werden bereits etablierte Autorinnen in Weltstädte wie Los Angeles oder Rom geschickt, gibt es für unsereins Edenkoben, Schöppingen, Schreyahn oder Wewelsfleth. Da ich die Vorstellung, monatelang nur unter Autorinnen und Autoren zwischen Feldern, Wald und Kühen zu leben, eher beängstigend als kreativitätsfördernd finde, verspricht ein Stadtschreiberstipendium zumindest eine «Stadt» als Aufenthaltsort, da gibt es weder Kühe noch Schriftstellerkollegen.

Wie ich an meinem ersten Tag in Wels erfuhr, ist ein Stadtschreiberstipendium aber nicht mit einem normalen Aufenthaltsstipendium zu vergleichen. Ich hatte morgens fünf Termine, mit einem Veranstalter, mit der Lokalzeitung, dem Vermieter, im Medienkulturhaus, mit dem Wirtschaftsstadtrat und nicht zuletzt dem Lokalfernsehen, die mir einen Block und einen Stift in die Hand drückten, um mich unter dem Ledererturm und am Mühlbach «beim Schreiben» zu filmen. Immerhin kein Foto mit dem FPÖ-Bürgermeister, dachte ich.

«Stadtschreiber werde ich ganz bestimmt nie», sagte der Schriftsteller Clemens J. Setz in einem Gespräch, in dem er sich kritisch zum Stipendiensystem für Schriftsteller äussert. Auch mir schwante langsam, worauf ich mich hier eingelassen hatte. Die Stadt will so einiges von ihrer Schreiberin: Sie soll die Stadt beobachten, sich von ihr inspirieren lassen und darüber schreiben, durchaus kritisch darf das sein, aber man sei ja auch ein Aushängeschild. Irgendwas zwischen Maskottchen, Hofnarr und Chronistin. Ich wurde zu einer Menge an Veranstaltungen eingeladen und zuweilen in den diversen Ansprachen durch Lokalprominenz aus Kultur, Politik und Wirtschaft sogar erwähnt. «Die Frau Stadtschreiberin ist auch da, vielleicht schreibt sie ja dann auch noch darüber», oder mir wurde gleich ungefragt das Mikrofon gereicht: «Drei Sätze zu Wels bitte!» Die Stadtschreiberin war im Theater, im Schlachthof oder die Stadtschreiberin ist mit dem Fahrrad durch die Fussgängerzone gefahren, hiess es. «Ach so, Sie arbeiten im Büro des Bürgermeisters», meinte ein älterer Herr auf der Trabrennbahn. «Schreiben Sie positiv oder negativ über unsere Stadt?», fragte eine sehr misstrauische Dame am Kulturstammtisch. Und zwischen Skepsis und Wortverwirrungen: «Braucht eine Stadt wie Wels so was?»

Ich wohnte im Maria-Theresia-Hochhaus, dem ehemals höchsten Haus von Österreich, mitten in der Stadt. Leider wurde es – erstmals in Jahrzehnten – gerade saniert. Meine romantische Vorstellung, ich würde abends auf dem Baugerüst sitzen, wieder anfangen zu rauchen und Kurzgeschichten schreiben, wurde schnell enttäuscht: die Fenster waren zugeschraubt, die Aussicht durch eine weisse Folie verdeckt und morgens früh weckten mich die Presslufthämmer. Ich floh ins Medienkulturhaus, ins Kaffeehaus oder ins Kulturzentrum Alter Schlachthof, wo ich später auch ein Büro bekam.

Zwischen Matterhorn, Toblerone und Federer

Ich wurde sehr nett empfangen in Wels, ich stand auf der Gästeliste zahlreicher Kulturinstitutionen, wurde ins Theater, ans Konzert und ins Kaiserpanorama eingeladen. Ich hatte Lesungen in einem Hotel, in einer Galerie und in einem Pilates-Studio, dort wurde im Rahmenprogramm die Schweizer Nationalhymne gespielt, und es gab ein Quiz mit Fragen zu Matterhorn, Toblerone und Roger Federer. Nach gut einem Monat konnte ich mir nichts anderes mehr vorstellen als Wels. Ich ging die immer gleichen Wege, vom Hochhaus die Gefängnismauer entlang zum Medienkulturhaus und unter dem Ledererturm hindurch auf den Stadtplatz, durch eine Fussgängerzone, die aussah wie alle Fussgängerzonen in allen kleineren Städten, der Traun entlang oder dem malerischen Mühlbach, an den Messehallen vorbei in den wilden Welser Westen, nach Lichtenegg und Noitzmühle. Mein Projekt hiess «Mit fremden Augen durch die Stadt – Welser Spaziergänge». Vom Flaneur der Grossstadt und weiteren berühmten Spaziergängern der Literaturgeschichte, Baudelaire und Benjamin oder Robert Walser, über Debords «Theorie des Umherschweifens» bis zu Thomas Bernhards «Gehen» ist Gehen, Denken und Schreiben immer zusammen gedacht worden. Nicht selten wurde ich auf meinen Spaziergängen begleitet, die Leute zeigten mir ihre Stadt, den Römerweg, die Marienwarte oder die Weite der Traunauen. Das Maria-Theresia-Hochhaus lotste mich immer sicher nach Hause.

Nie hatte ich eine breitere Leserschaft: meine wöchentliche Kolumne im Welser Teil der lokalen Zeitung lasen die unterschiedlichsten Leute, von der alten Dame, bei der ich Schillinge für die Waschmaschine eintauschen musste, bis zum älteren Herrn, der an der Tür klopfte, um für die Caritas zu sammeln, von den Welser Berufsschülerinnen mit den sorgfältig lackierten Fingernägeln bis zur Dame, die mich nach einem Frauenspaziergang zum Katholizismus bekehren wollte. Im Café Strassmair, wo ich regelmässig Zeitung lesend, Strudel essend und passiv rauchend sass, rief mir ein Gast zu: «Ich lese gerade Ihren Artikel!»

Nicht von ungefähr ist Wels, wie mir eine Bekannte erzählte, die einmal im Marketing gearbeitet hatte, wegen seiner angeblichen Durchschnittlichkeit eine ideale österreichische Musterstadt, an deren Bevölkerung verschiedenste Produkte getestet werden, bevor sie auf den grossen Markt kommen sollen. Wels ist weder besonders gross noch klein, hier trifft Industrie auf Landwirtschaftsmesse, Provinz auf Stadt, hübsche Gründerzeitbauten auf graue oder bunt bemalte Sechzigerjahre-Hochhäuser, das Medienkulturhaus trifft auf Brauchtumsveranstaltungen und linke Urgesteine wie der Alte Schlachthof auf die rigide Sparpolitik der neuen Stadtregierung.

«In Wels muss man nicht gewesen sein», habe Thomas Bernhard auch gesagt, erzählte man mir. Ob der Satz tatsächlich Bernhard zuzuordnen ist, weiss ich nicht, er sagt aber etwas über das Selbstverständnis der Welserinnen und Welser, deren Verhältnis zu ihrer eigenen Stadt am ehesten mit einem komplizierten Gemisch aus Bescheidenheit, Geringschätzung und verkapptem Stolz beschrieben ist. Ähnlich wie Konrad, der im «Kalkwerk» vom Kreisgericht Wels wegen «sogenannter Ehrenbeleidigung» verklagt worden war, wurde auch Thomas Bernhard in Wels tatsächlich verurteilt, wegen Beleidigung eines Geistlichen in «Die Ursache». Im Gegensatz zu Bernhard hätte ich nicht vor, irgendjemanden in Wels zu beleidigen, schrieb ich in meiner ersten Kolumne. Leider gelang mir das nicht ganz.

Den Welser Bürgermeister sah ich erstmals auf einer Kuchenmesse, wo er gemeinsam mit der amtierenden Miss Oberösterreich eine Torte mit rosa Zuckerguss verzierte. Sonst war er damit beschäftigt, im Editorial des offiziellen Amtsblattes der Stadt angebliche Falschmeldungen richtigzustellen, Integrationsprobleme zu behaupten und sich gegen weitere Asylunterkünfte auszusprechen. Oder er gab Interviews über sein Aufräumen im Magistrat, Brauchtum im Kindergarten, Deutschpflicht für Bewerber einer städtischen Wohnung, neue Überwachungskameras in der Innenstadt und «österreichisches Kulturgut» in Form eines Würstelstands am Kaiser-Josef-Platz.

Die Sache mit dem Bürgermeister

Kurz vor Ende des Aufenthaltes in Wels schrieb ich eine Kolumne über einen Spaziergang mit einem Mitglied der Welser Initiative gegen Faschismus durch die von einer wechselhaften Migrationsgeschichte geprägten Stadtteile Lichtenegg und Noitzmühle. Am Schluss des Spaziergangs wollten wir eine von der Welser Antifa kuratierte Ausstellung zur Migrationsgeschichte im örtlichen Altersheim anschauen, die aber – mutmasslich seit der feierlichen Wiedereröffnung desselben durch die zuständige FPÖ-Stadträtin und den Bürgermeister – im Keller verstaut worden war. So fragte ich im Schlusssatz der Kolumne, ob dies allenfalls etwas mit dem Geschichtsverständnis jener neuen Regierung zu tun haben könnte.

Der Bürgermeister rief mich tags darauf an und schimpfte, er sei der Bürgermeister dieser Stadt, ich hätte ihn, die Welser Regierung und die Bewohner der Noitzmühle beleidigt. Er sei kein Nazi, sonst hätten ihn nicht sechzig Prozent der Welser gewählt. Das hatte ich auch nicht behauptet, nur weiter oben in der Kolumne erwähnt, dass im Schloss Lichtenegg nicht nur die Lieblingstochter der allseits beliebten Kaiserin Sissi gewohnt habe, sondern auch die Schwester von Hermann Göring. Auf jeden Fall habe er nichts mit der Entscheidung zu tun, diese Ausstellung abzubauen. «Wir bezahlen Sie!», rief der Bürgermeister und drohte mir, die Stadtschreiberstelle abzuschaffen. Er schlug mir dann noch ein Treffen vor. Bei einem Kaffee eine Woche später klärte er mich über die «wahren Probleme» des Stadtteiles Noitzmühle auf und diskutierte mit mir über direkte Demokratie und diverse Sparvorschläge in der Kulturpolitik. Ausserdem bekam ich einen Brief einer städtischen Baugenossenschaft, die mir geschäftsschädigendes Verhalten vorwarf, da ich in besagter Kolumne auch über Wohnungen mit «papierdünnen Wänden» geschrieben hatte. Sie behielten sich vor, hiess es, «sich an mir schadlos zu halten». In Wels wird das literarische Wort noch ernst genommen, dachte ich. In meinem Stammcafé wurde ich darauf wie eine tragische Heldin empfangen und zum Schnaps eingeladen.

Ein letztes Mal ging ich durch die dörfliche Vogelweide mit den pastellfarbenen Reihenhäusern, am Sternhochhaus und der Dragonerkaserne vorbei stadteinwärts, über den Stadtplatz und durch die Fussgängerzone, die Schritte gezählt, zum Traunpark-Einkaufszentrum und über die Brücke auf den Reinberg zur Marienwarte, ein letzter Blick hinunter und über die Traun auf Wels, diese leicht unterschätzte Schönheit.

Wieder am Schreibtisch, rief ich zuhause an und meinte, ich würde doch noch länger hier bleiben, nur ein bis zwei Wochen. Das nenne sich wohl Stockholm-Syndrom, meinten die Freunde. «Linke Lohnschreiberin mit Wahrnehmungsstörung» schrieb jemand unter die folgende sentimentale Abschiedskolumne. «Eine Bachmann wird sie nie.» Andere dankten mir, die Texte hätten ihnen einen neuen Blick auf die eigene Stadt gewährt. «Unsere Stadtschreiberin muss bleiben!», sagten die Leute im Strassmair oder im Schlachthof, die ich fast schon Freunde nannte, und ich versprach wiederzukommen.

Während ich diesen Text schreibe, erreicht mich eine E-Mail aus Wels. Unter dem Betreff «Thomas Bernhard und Nachfolge» schreibt mir ein Herr, ihm sei eine Seite der Welser Zeitung in die Hände gefallen, mit meinen Zeilen über Thomas Bernhards vergebliche Suche nach der NZZ. «Ich weiss nicht, ob sich Ihr Aufenthalt fortsetzen und es dann einen Ergebnisbericht geben wird. Dann könnte man das Thomas Bernhard unterlaufene Versehen anbringen, die Maxlhaid nicht aufzusuchen, wo es immer schon die NZZ gegeben hat. Vielleicht war aber auch ihm die Stadt damals zu gross, so dass er sie nicht zu erfassen vermochte. Damals gab es auch das Internet noch nicht.» Auch wenn man sich fragen kann, ob man unbedingt wegen einer NZZ nach Wels fahren sollte, wende ich mich in diesem nun nachgelieferten Ergebnisbericht an den Suhrkamp-Verlag und ersuche um eine dementsprechende Korrektur der Werke Thomas Bernhards.

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