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Vom «Diskurs in der Enge» zum Weltpatriotismus

Schweizer Literatur sollte den internationalen Charakter ihres Bezugsrahmens ­anerkennen – und sie darf gern politisch sein.

 

Wenn Sie zum ersten Mal ein Land bereisen, bekommen Sie dann nicht auch Lust, seine Autoren zu lesen, um sich in Land und Leute einzufühlen? Bevor ich nach Albanien fahre, lese ich Kadare, bevor es den Lake Superior entlanggeht, sehe ich bei Hemingway nach. Was aber, wenn man mich fragte, was man vor einem Besuch in der Schweiz lesen soll?

Ramuz? Cendrars? Max Frisch? Der Waadtländer, der Kosmopolit, der Zürcher? Oder wird Literatur heute ohnehin hors sol von nomadischen Schriftstellern gemacht, die von Grund auf Reisende sind? Ist die Schweiz ein Sonderfall? Was und wer ist die Schweizer Literatur?

Für die Tempelwächter, die Archivaren, ist es einfach. Sie warten auf den Tod zeitgenössischer Autoren mit Schweizer Pass, bevor sie sich mit ihnen befassen, um dann mit ein oder zwei Generationen Verspätung einen Kanon von Toten hervorzubringen. Bei den Verlagen, die sich für diejenigen einsetzen, die heute in der Schweiz schreiben, ist es schon schwieriger. Sie profitieren vom Label «Schweiz», nicht zuletzt durch Subventionen, aber die Autoren, die sie veröffentlichen, ob Tessiner, Deutschschweizer oder Romands, sehen sich einem grösseren Zusammenhang zugehörig, wollen Teil der Literatur Italiens, Deutschlands oder Frankreichs sein.

Ich vertrete eine Position, deren Widersprüche ich klar sehe. Wenn ich auf Reisen immer die Autoren des Landes lese, in dem ich mich befinde, tue ich, als gäbe es nationale Literaturen. Andererseits fordere ich eine Literatur, die weltläufig, welthaltig ist. Ich selbst mache diesen Spagat, indem ich meine Geschichten auf fünf Kontinenten erzähle, aber immer mit meinem jurassischen Akzent. Im folgenden werde ich versuchen, diese doppelte Forderung nach Globalität und Regionalität – oder anders gesagt, nach einer Öffnung der Literatur unseres mehrsprachigen Landes – verständlich zu machen.

Im Jahr 1937 schrieb der 60jährige Charles-Ferdinand Ramuz den Aufsatz «Besoin de grandeur». Darin schreibt er: «Ich bin vielleicht patriotisch, aber kein Nationalist … Ich bin patriotisch in dem Sinne, dass ich mein Land im geografischen Sinne des Wortes liebe, ich mag eine bestimmte Gegend, ein bestimmtes Klima, einen bestimmten Himmel. Patriot ist sogar schon zu stark; man müsste Landmann sagen können, denn im Wort Landmann steckt das Land … Als ich zum ersten Mal das Schauspiel wahrnahm, von dem ich umgeben war (mit meinem Blick, nicht dem, den man mir mitgegeben hatte), sah ich Berge, Wasser, … einen See, das heisst einen verbreiterten Fluss, Dörfer und Städte am Rande dieses Sees und dann Menschen, die dort lebten.» Diese wenigen Zeilen ermöglichten es Politik und Kulturbeamten, Ramuz für ihre Zwecke einzuspannen. Man sprach von der «Substanz des Landes», machte Ramuz zur Säule unserer nationalen Literatur. «Ramuz zu lieben», proklamierte der Literaturprofessor Henri de Ziegler, «bedeutet, unser Land zu lieben, das in unseren Augen noch schöner geworden ist, seit er uns seine lieh, um besser zu sehen.» Aber was ist das für ein Land, für eine Landschaft, in der der Landmann, der Bauer, Bücher schreibt?

«Der See und die Alpen als Bühnenbild für Ihren Salon»

«Le lac et les Alpes comme toile de fond dans votre salon», lese ich auf der Umzäunung einer riesigen Baustelle am Bahnhof von Morges. Der Werbeslogan hat Potenzial: Wer in der Schweiz träumt nicht davon, von seinem Wohnzimmer aus einen See, die Alpen oder gleich beides zu sehen? In den Hotels dieses Landes richtet sich der Preis der Zimmer danach, ob man von ihnen aus einen See oder die Alpen sehen kann. Wir nennen das: eine Aussicht haben.

Wenn in der Werbung «Der See und die Alpen als Bühnenbild für Ihren Salon» steht, kümmert es niemanden gross, dass die Berge, die man von Morges aus sieht, gar nicht zur Schweiz gehören. Der Mont Blanc und die Savoyer Alpen liegen in Frankreich. Millionen Schweizer lieben Landschaften, die sie mit ausländischen Nachbarn teilen. Auch die Anrainer des Lago di Lugano, des Lago Maggiore und des Bodensees werden feststellen, dass ihre Aussicht nur zur Hälfte schweizerisch ist, und wer am Schweizer Rhein- oder Doubsufer lebt, sieht sich Österreichern, Deutschen, Franzosen gegenüber. Was wir für unsere Landschaft halten, ist eine grenzüberschreitende Kon­struktion, eine kosmopolitische Realität. (Wenn Max Frisch den Zürichsee mit dem Mississippi vergleicht und sagt, letzterer sei viel breiter und farbenfroher, trägt er dazu bei, unseren geografischen Patriotismus in ein globales Bezugssystem einzuordnen.)

Dass das «Bühnenbild für unser Wohnzimmer» ein internationales ist, hat politische und literarische Konsequenzen. Politisch müssen wir uns darauf einigen, das gemeinsame Gut nicht zu sehr zu verschmutzen, insbesondere das Trinkwasser, das wir aus dem Grenzsee gewinnen. Wir müssen den öffentlichen Verkehr harmonisieren, um grenzüberschreitende S-Bahn- oder Buslinien installieren zu können, müssen Kommunikationsfrequenzen, Seenotrettungen, Flughafenradare, Schiffsfahrpläne und nicht zuletzt die Zollorganisation mit­einander abstimmen.

Und in der Literatur? Wie wird diese weite Verbreitung der Landschaft von den Autoren wahrgenommen? Wenn es stimmt, dass viele unserer Grenzen fluide und unserer Landschaften grenzüberschreitend sind, erkennen die Autoren das? Ramuzʼ «geografischer Patriotismus» ist deshalb ein interessantes Konzept, weil es erlaubt, ein Wir zu entwerfen, das weder auf sprachlichen oder religiösen Kriterien noch auf einer politischen Struktur beruht. Nur die Geografie, würde Ramuz sagen, die Ecke des Landes, verbinde die Bewohner so miteinander, dass man von einem Wir sprechen könne. Eine schöne Idee, wobei gerade Ramuz selbst sie bis an die Grenze zum Nationalismus verzerrt hat: Was die Deutschschweizer betrifft, spricht er von «Rassentrennung», und gegenüber den Savoyern, seinem Lavaux direkt gegenüber, hat er nie mehr als herablassende Distanz gezeigt. Das gehört zu den Ambivalenzen des Romanciers.

Oft besingen Autoren, die am Rande eines Sees leben, das Wasser nur von ihrer nationalen Warte aus. Dafür kann es gute Gründe geben, zum Beispiel, wenn sich Nachbarländer im Krieg befinden oder die Topografie ein Hindernis darstellt. Es gibt aber auch fragwürdige Gründe, zum Beispiel, wenn das gegenüberliegende Ufer nur als Dekoration betrachtet wird.

Um besser zu verstehen, wie ein anderer, weniger nationaler Umgang möglich ist, lohnt es sich zu sehen, wie ausländische Autoren über unsere Grenzseen sprechen. Marcel Proust, dessen Mutter in Evian lebte, vermengte ein Hotel am Genfersee und eines an der französischen Atlantikküste zum fiktiven Grand Hotel de Balbec aus der «Suche nach der verlorenen Zeit», weil ihn der Léman so sehr an das Meer und das Meer an den Léman denken liessen. In Gérard de Nervals «Voyage en Orient» von 1851 beginnt das Kapitel zum Bodensee mit dem Ausruf: «Konstanz! Ein schöner Name und eine schöne Erinnerung! Es ist die am besten gelegene Stadt in Europa, das prächtige Siegel, das Nordeuropa mit dem Süden, den Westen mit dem Osten verbindet. Fünf Nationen trinken aus seinem See, aus dem der Rhein als Fluss entspringt wie die Rhone aus dem Genfersee. Konstanz ist ein kleines Konstantinopel, gelegen am Ausgang eines riesigen Sees, zu beiden Ufern des noch friedlichen Rheins.» Welch enthusiastische Aussage – kein Schweizer Schriftsteller hätte Konstanz je als Konstantinopel Europas bezeichnet.

Die beiden Franzosen aber haben einen anderen geografischen Patriotismus im Kopf als ein Schweizer Autor: Die flüssigen Grenzen ihres Landes sind das Meer, der Ozean, der Rhein. Und wenn sie nicht flüssig sind, sind es Berge: die Pyrenäen, die Alpen oder die Vogesen. Es ist kein Wunder, dass sie unsere Grenzseen oft mit Meereslandschaften vergleichen und dabei die Berge bewundern, die sie umgeben. Man könnte auch andere Autoren herbeiziehen: der Österreicher Zweig für den Genfersee, die Engländerin Shelley für den Bodensee, für die Tessiner Seen böten sich der Franzose Stendhal oder der Deutsche Hesse an. Ihrer aller Augen erweitern unseren Horizont.

Schriftsteller, zum Rapport!

«Der See und die Alpen als Bühnenbild für Ihren Salon»: Der Blick von Autoren, die die Schweizer Grenzseen anders gesehen haben als Ramuz und seine Weihrauchträger, erlaubt es mir, noch einen Schritt weiter zu gehen, um eine Sichtweise zu entwickeln, die ich die der Globalität nenne. Globalität meint etwas ganz anderes als Globalisierung, die nur den Wettbewerb aller gegen alle bedeutet und eine Ursache des Nationalismus ist. Globalität verpflichtet uns, den Planeten als Ganzes zu sehen, wenn es um die Umwelt, das Klima, die biologische Vielfalt geht – ohne den Ort zu verleugnen, in den Worten Ramuzʼ: «das kleine Stück Land, wo uns die Geburt hingelegt hat», im Hintergrund der See und die Alpen.

Es geht darum, einen neuen Patriotismus als Weltpatriotismus aufzubauen. Die Schweizer Schriftsteller sind auf diese Aufgabe ungewollt gut vorbereitet: Ihre jüngere Geschichte war stets von Grenzen geprägt. Denjenigen, die im Krieg verteidigt werden mussten, aber auch denjenigen, an die unsere Weltsicht, unsere Kleingeistigkeit stiess: der Diskurs in der Enge. Da Klima- und andere Katastrophen keine Grenzen mehr haben, sind wir umso mehr dazu angehalten. Schweizer Schriftsteller sind natürlich nicht die einzigen, die ihren Zeitgenossen einen globalisierten Patriotismus bieten können. Aber sie haben etwas, das Schriftsteller aus grossen Nationen nicht haben, deren geografischer Patriotismus kaum über die sogenannten natürlichen Grenzen der Meere und Ozeane hinausreicht. Unsere geografische Enge ist in dieser Beziehung ein Vorteil.

Es gibt ein Wort, das mir gefällt, wenn ich über die Haltung der Schweizer Autoren zu dem politischen System berichte, zu dem sie gehören: das des Berichts. Max Frisch hat diesen Begriff als Untertitel für «Homo faber» verwendet. In seiner französisierten Form – Rapport – verwendet ihn auch das Militär. So berief der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, Henri Guisan, auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Bedrohung am 25. Juli 1940 alle Offiziere oberhalb des Rangs eines Majors zu einem Rapport zum Zustand der Nation und ihrer Verteidigung ein. In Luzern stiegen die dreihundert Militärs auf ein Dampfschiff, um zu einer Wiese zu gelangen, die anders nicht zu erreichen war: das Rütli. Man spottete über den General, der alle Militärkader des Landes unter freiem Himmel zusammenberief; eine einzige deutsche Bombe hätte seine Armee führungslos hinterlassen. Und doch dient mir Guisans Rütlirapport als Vorbild, um zu beschreiben, wie wir Schweizer Schriftsteller unsere Rolle verstehen könnten, unsere Beziehung zum politischen Feld: Auf Französisch bedeutet rapport auch Beziehung.

Viele Texte von Schweizer Autoren sind in diesem Sinn Rapporte. Sie sind im weitesten Sinne von politischer Sorge getrieben; unsere Schriften führen auf die eine oder andere Weise die grossen Themen der Zeit mit sich: die Frage der Grenzen und damit der Migration, der klimatischen und biologischen Umwälzungen, der Verteilung des Reichtums usw. Wenn ich das sage, wird mir dann vorgeworfen, ein politischer Schriftsteller zu sein?

Allen, die das Memoire und die Literaturgeschichte der Schweiz verwalten, erscheint der Dualismus von Politik und Literatur unüberwindbar. Ich glaube, weil sie den Unterschied zwischen der Politik und dem Politischen vergessen. Politik ist, über die Subventionierung von Kuhhörnern oder Zahnarztgebühren zu sprechen, aber den Zeitgenossen über den Zustand ihres Landes Bericht zu erstatten, ist politisch. Wenn ein Autor seinen Lesern Abstimmungsempfehlungen gibt, macht er Politik, wenn er sagt, die Aneignung der Landschaft durch Nationalisten sei verhängnisvoll, drückt er einen politischen Gedanken aus. Wir stürzen uns in das Getümmel der Welt und rapportieren Echos, Schnappschüsse, die wir formen (oder deformieren), damit diejenigen, die uns lesen, eine Sicht vorfinden, die sie teilen können. Das hat nichts damit zu tun, wie das Land von Politikern verwaltet wird, nichts mit ihren notwendigen täglichen Kompromissen.

Engagement für das Desengagement

Ich habe den Eindruck, Politiker und Schriftsteller können sich den Raum des Politischen teilen, ohne dass die eine oder die andere Seite aus der Rolle fallen müsste. Die besten Schweizer Politiker verfolgen in langer Tradition einen Ansatz, den ich als Engagement für das Desengagement bezeichnen will, für den Ausstieg. Heute wollen sie die todbringenden Technolo­gien des Kohle- und Atomzeitalters hinter sich lassen, ein ungerechtes System, das zum Krieg führt. Im 19. Jahrhundert erfanden sie das Rote Kreuz und die nahezu unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten. Im 20. Jahrhundert hat die Schweiz Kriege unbeschadet überstanden, ja vom Elend ihrer Nachbarn profitiert, und ging auch aus dem Kalten Krieg und aus Finanzkrisen ohne grosse Kollateralschäden hervor. Gerade aufgrund ihrer Enge hat sie ihren Einfluss über ihre flüssigen Grenzen hinaus ausgedehnt. Sie hatte ihre Schäfchen im Trockenen, behielt aber kühlen Kopf, um denjenigen zu helfen, die sich in Konflikten, die sie in den Krieg führen, die Finger verbrannt hatten. Wenn das politische Personal dieses Landes eine Rolle spielen kann, dann die, in einer Welt permanenter Konflikte seine guten Dienste anzubieten.

Und die Rolle der Schriftsteller dabei? – Ich träume von einer Literatur in der Schweiz, die diese Vision eines Engagements für das Desengagement voranbringen kann. Das heisst nicht, dass die Autoren nun Wahlkampfreden schreiben oder ihre eigene Stimme aufgeben sollten, ihr Bedürfnis, von der Liebe, der Trauer, ihren Ängsten zu erzählen. Das Projekt, von einem engen Patriotismus zu einem Weltpatriotismus zu gelangen, ist eine riesige Baustelle. Wir sollten uns die nötige Distanz bewahren, ohne zu vergessen, über welche Welt wir zu berichten haben. Wir können uns dabei nach Vorbildern aus früheren Generationen richten, die die Notwendigkeit dieses Engagements erkannt haben, von Carl Spitteler bis Denis de Rougemont, ohne Annemarie Schwarzenbach und den geografischen Patriotismus von Rousseau und Ramuz zu vergessen.

Indem sie Tag für Tag und mit grösstmöglicher Sorgfalt jeden Rückfall in die frühere Enge kritisiert und die neuen Horizonte der Globalität aufzeigt, kann die zeitgenössische Literatur unseres Landes ihrem Publikum eine Art neuen Rütlirapport bieten, der nicht den Rückzug predigt, sondern die Sicht auf den See und die Alpen freigibt – nicht mehr von unserem Wohnzimmer, sondern von Prousts Hotel Balbec und von Lampedusa aus gesehen.

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