Virginia Woolf:
«Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen»
Who’s afraid of Virginia Woolf? Die Frage ist heute so berechtigt wie damals, als Edward Albee sie 1962 seinem Theaterstück, das inzwischen längst zu einem Bühnenklassiker geworden ist, voranstellte. Seit Beginn ihres Schreibens gehört Virginia Woolf zu jenen Autoren, deren Werk (und Leben) fast ausnahmslos polarisieren. Leser und Leserinnen feiern ihre Romane, Essays, Tagebücher, Briefbände und geraten dabei, eins nach dem andern verschlingend, in den von ihr vorgezeichneten, nervig flackernden Zustand. Oder sie lassen die Hände davon – ungerührt, verunsichert, beklommen?
Am 25. Januar 1882 nahm in London ein Leben seinen Anfang, das sich in Extrembereichen ereignen würde. Es sollte ein Dasein des ständigen Ringens um Ruhe und Stabilität der Gesundheit werden, quälend, zerstörend und letztlich in zwei Hälften brechend. Glück und Grauen – zweierlei Wahnsinn: zumindest Ansätze davon sind in Virginia Woolfs Äusserungen stets gleichzeitig vorhanden. Auch und vor allem in ihren persönlichen Schriften, die nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Nun sind sie erweitert im Band «Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen» nachzulesen. Den frühesten Text «Reminiszenzen», adressiert an das noch ungeborene Kind der über alles geliebten Schwester Vanessa, schrieb Virginia Stephen, wie sie damals noch hiess, im Jahre 1907. Hier findet sich noch nicht dieser spätere, so ganz eigenständige, brandende Woolf-Sound, zusammengesetzt aus luftiger Phantasie, sprühender Intelligenz und zehrender Sensibilität, der vergangene Kindheitsszenen neu entstehen lässt. Und auch der Stil, der die Türen öffnen wird für die moderne Literatur in den zwanziger Jahren – das Auseinanderbrechen des Erzählflusses, einmontierte Parallelgeschehnisse, Überblendungen und Vielstimmigkeiten –, ist nur im Ansatz als leichte Erregung spürbar. Aber die Kraft, mit den Sätzen Bilder und Stimmungen zu schaffen – schwärzeste Momente oder Augenblicke voller Glanz –, dieses Können war offenkundig von Anfang an vorhanden. So erinnert sie etwa das «riesige und geheimnisvolle dunkle Land unter dem Tisch im Kinderzimmer (…), wo fortwährend Abenteuer ihren Lauf nahmen». Und Wort für Wort beginnt sich dieses von der Stephen-Kinderschar bewohnte Land zu formen, es regt sich Leben, es regt sich Schrecken, Lust und Todestraurigkeit.
Ihren letzten Roman, «Between the Acts», schrieb Virginia Woolf in Erwartung der im Sommer oder Herbst des Jahres 1940 bevorstehend geglaubten deutschen Invasion. Ihr Mann, der Jude Leonard Woolf, und sie hatten sich für diesen Fall bereits Gift besorgt. Vor der Angst rettete sie sich ins (Roman-)Schreiben und gleichzeitig, weil die Anstrengung so gross war, rettete sie sich vor dem Schreiben ins «Kritzeln», wie sie es nannte. Es entstanden Texte wie der letzte im Band enthaltene: «Skizze der Vergangenheit». Von Kritzelei sind diese 130 Seiten weit entfernt. Sie offenbaren vielmehr ihre überragende literarische Meisterschaft. Ihre Reise in die Vergangenheit führte Virginia Woolf als Kind (und auch später) oft nach St. Ives, Cornwall, wo die Familie ein Ferienhaus besass. Den Blick von der Küste aufs Meer mit seinen wechselnden Farben und Bewegungen hielt sie nicht nur in ihren Romanen, sondern auch «kritzelnd» fest. Ebenso, wie in ihrem vielleicht schönsten Werk «Zum Leuchtturm», das Andenken an die Eltern. Vier Monate vor ihrem Tod, am 17. November 1940, brechen die «Skizzen» ab. Am 28. März 1941 wird Virginia Woolf, die Manteltaschen voller Steine, in den Fluss Ouse steigen und sich ertränken. Sie befürchtete einen erneuten Wahnsinnsanfall.
Angst vor Virginia Woolf? Die Intensität des Schreibaktes und die Fragilität dieses Lebens übertragen sich beim Lesen, sie vibrieren, lodern und beunruhigen. Ihr Können setzt bis heute Massstäbe und hinterlässt – mit Blick auf die Gegenwartsliteratur nicht ganz unproblematisch – höchste Ansprüche mit Suchtgefahr. Die Frage nach der Angst stellt sich also mit gutem Grund.
Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.