Abkratzen bis ins Tal
Dominique Potard: Skieurs du ciel. Chamonix: Éditions Guérin, 2012.
Ein Buch, das schon zerfleddert erscheinen sollte, als hätte man es abends mit schweren Oberschenkeln in einer SAC-Hütte aus dem Regal genommen, um beim Génépi noch etwas zum Blättern zu haben: klassische Aufmachung, Schwarzweissaufnahme des Autors auf dem Buchrücken, vornehme Buchgestaltung, beeindruckende Bildredaktion. Und dann geht der Horrorfilm los. Im typischen Sog von Grauen und Faszination kann man nicht hinsehen – und es nicht lassen. Skieurs du ciel ist kein Buch über himmlische Pulverabfahrten, sondern über das Springen von der Klinge, in Felswände hinab, in enge Eiscouloirs, die aus Skifahren ballistischen Wahnsinn machen. Dominique Potard hat das erste Buch über die fast 80jährige Geschichte des Extrem-Skifahrens vorgelegt mit Texten und vor allem Bildern, die körperliche Reaktionen hervorrufen. Zum Nachfühlen: Man sagt, die erste schwarze Piste vergesse man nie. Dabei blickt man läppischen 30° Neigung entgegen. Extrem-Skifahren heisst 45° und ab 50° beginnt die sogenannte No-Fall-Zone, jeder Sturz Absturz. Oder in den Worten eines Verfallenen: «Ab 60° beginnen die Ellbogen den Schnee zu berühren, ab 65° streifen die Hüften den Abhang und gegen 70° wird man von ihm weggestossen.» Die Abfahrtslinien auf den Beweisfotos sehen aus wie willkürliches Kindergekrakel auf Felswänden. Es geschah, dass Kletterer über sich einen Skifahrer ihre Wand haben abfahren sehen müssen. Unglaublich? Auch vom Matterhorn ist schon einer auf Skiern runter. Im gelbrosa Overall und weissen Skischuhen, ein Geck wie aus dem Katalog, aber auf der Kamikazefahrt seines Lebens. Mit extremer Präzision, Unzusammenhängendes mit Sprüngen überwindend hat Jean Marc Boivin gezeigt, was mit Skiern möglich ist, wenn man sie wie Bergsteiger-Utensilien anwendet. «Wo man nicht sein Leben aufs Spiel setzt, verliert das Abenteuer seinen Wert. Felsklettern ist für mich nichts als Gymnastik: Russisch-Roulette mit Karamelbonbons. Ich ziehe das Extrem-Skifahren vor. Es ist riskanter, weil zufälliger.» Das Buch ist voller Zitate, die man nicht mehr vergisst, weil sie uns in einer Direktheit provozieren, die im Marketing-Alpinismus nicht mehr zumutbar scheint. «Du bist hier, weil du es wolltest. Du bist in Gefahr. Aber Rückzug ist unmöglich. Du musst reagieren.» «Off-Piste fahren ist wie den Asphalt zu verlassen und barfuss über eine Wiese zu gehen.» «Ich habe aufgehört, weil ich realisiert habe, dass ich noch am Leben bin.» «Extreme Skiing ist ein Lebensweg. Für mich ein Weg, Mann zu werden.» Aber auch: «Für mich sind alle Alpinisten, Autorennfahrer, Abenteurer, die ihr Leben riskieren, Leute, die in ihrem alltäglichen Leben nicht reüssieren. Auch sie sind Opfer eines Systems, sie sind Gladiatoren. (…) Ich lehne jede mediale Verbreitung ab. Diese Eitelkeit ist beschissen.» Extrem auch zu lesen, wie schnell diese Steilwandabkratzer alle Kontroversen des Alpinismus durchgespielt haben. Gleich nachdem sie den Alpinismus auf den Kopf gestellt hatten mit ihren Tal- statt Gipfelsiegen, wurden sie nicht nur von den eigenen Lawinen eingeholt, sondern auch von ihrer Menschlichkeit. Es folgten die Streitereien um Pioniertaten: «Zwei Snowboarder in meiner Wand!», fair means: «Wo ist das Abenteuer bei einem Helikopter, der einen absetzt? Wo die Erschöpfung, wenn Schweiss durch Kerosin ersetzt wird?», und Definitionshoheit, wann nun ein 8000er als mit den Skiern abgefahren gilt: «Mit Sauerstoffmaske klingt jeder wie Darth Vader. Skier, wechselt nicht auf die dunkle Seite!» Noch mehr als Geschichtsbuch ist Skieurs du ciel aber eine fabelhafte Typologie von Showmännern, die von den Kameras, die sie riefen, in den Tod getrieben wurden, von kiffenden Skinomaden, geheimnisvollen Extrem-Eremiten oder dem Alpinisten, der wegen Frau und Kind auf Grosses verzichtet, dafür die Verdichtung von allem im Extreme Skiing sucht. Ein Buch wie eine Tour de Force durch die Motive des Alpinismus, das schon auf der ersten Seite mit einem wie Nietzsche beginnt. «Nicht die Höhe: der Abhang ist das Furchtbare! Der Abhang, wo der Blick hinunterstürzt und die Hand hinaufgreift. Da schwindelt dem Herzen vor seinem doppelten Willen.»