«Andere würden Klavierstunden nehmen»
Wie es dazu kam, dass ich Klavierspielen lernte. Und ein Buch darüber schrieb.
Andere würden Klavierstunden nehmen. Ich nicht. So sind die Bremer, war von Sven Regener zu hören, sie haben Angst, sich zu blamieren. Ich vermute, Regener irrt, nicht was die Bremer betrifft, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die einzigen sind.
Ich vermute auch, dass mich nicht die Angst vor der Blamage antreibt, es allein zu versuchen. Sind Lehrerinnen nicht dazu da, uns genau das zu ersparen? In der Schule funktioniert das vielleicht nicht immer ganz in diesem Sinn, aber private Klavierstunden sind eine andere Sache. Wenn ich fürs erste sehen will, wie weit ich allein komme, scheint es sich eher um eine sehr alte Lebensmaxime zu handeln. Dass sehr alte Lebensmaximen durchaus kontraproduktiv sein können, habe ich inzwischen zwar gelernt, aber es bleibt schwierig zu unterscheiden, wann das der Fall ist und wann nicht.
Die Maxime hat sich immerhin vielfach bewährt. Aber nicht nur. Als ich zehn oder zwölf war, wünschte ich mir nichts mehr, als Akkordeon zu spielen. Heute interessiert mich daran vor allem die Frage, warum ein Kind sich das in der Bundesrepublik von 1950 wünscht. Dieses Kind war so realistisch, sich nichts Utopisches zu wünschen, und dass Akkordeonspielen möglich war, wusste es von einer Klassenkameradin, die das konnte, und, wichtiger, von den Neffen der Mutter, die die Quetschkommode spielten. Aber was dem Wunsch Gewicht verlieh, war ein Traum. Einer von diesen Kinderträumen, die wir für etwas ganz eigenes halten, während sie in Wahrheit den Zeitgeist mit seinen Verlusten und Hoffnungen spiegeln, ein schmieriges Konglomerat, das sich am deutlichsten am populären Musikgeschmack ablesen lässt. Blaue Nacht, o blaue Nacht am Hafen. Und das schliesst keineswegs aus, dass darin wirklich persönliche Hoffnungen und Fragen sich artikulieren. Das Schifferklavier, oder wie immer wir es nennen wollen, stand für gute Stimmung in kleinen Runden. Aber es reichte weit darüber hinaus, es stand für die Seefahrt, das männliche Abenteuer, für Argentinien und den Tango, eine erwachsene Erotik, lauter Dinge, für die ich nicht das geringste Interesse hatte, als ich Akkordeon spielen wollte. Oder doch?
Ich hatte ein gut erhaltenes Instrument zu Weihnachten bekommen und dachte, ich könnte mir das Spielen selbst beibringen, wie es meine älteren Cousins gemacht hatten. Ich konnte es nicht. Alle meine Bemühungen endeten in Sackgassen. Traurig und beschämend war das. Dass ich Unterricht gebraucht hätte, wie ihn meine Klassenkameradin hatte, wusste ich nicht, und wenn ich es gewusst hätte, hätte das Geld dafür gefehlt. Vielleicht hätte es für ein Lehrbuch gereicht, aber ich wusste auch noch nicht, dass es das gibt.
Lehrbücher sind eine wunderbare Erfindung. Im A-4-Format und voller nützlicher Übungen. So habe ich in meinen Studentenjahren das Zehnfingersystem gelernt, um als Sekretärin mein Geld zu verdienen.
Ich kaufte ein Klavierbuch. Am ersten Tag sagte es mir, wie ich die Finger auf die Tasten legen und was ich mit ihnen machen sollte. Es war ganz einfach. Und damit fingen die Schwierigkeiten an. Meine Finger können die kompliziertesten Dinge tun, sie sind an Zusammenarbeit gewöhnt, nicht aber daran, ihre individuellen Rollen aufzugeben, um an ihrem Ort das gleiche zu machen wie die andern Finger. Nicht nur gleich stark sollen sie ihre Taste schlagen, sondern auch gleich lang und im richtigen Augenblick. Der kleine Finger hätte das gern leiser gemacht als die stärkeren, und wenn er sich um mehr Kraft bemühte, um gleich zu klingen, wurde er zu laut, was ich sehr verständlich fand. Woher sollte er denn eine Kräfteskala im Kopf haben, die ihm bisher nie abverlangt wurde? Am besten schlug sich der Daumen. Seine Lebenserfahrung schien ein grösseres Repertoire zu enthalten.
Beim d-a-s auf der Schreibmaschine ging es nur darum, die Finger in ungewohnter Reihenfolge zu bewegen und den richtigen Ort zu treffen. Auf dem Klavier aber hat die gleiche Abfolge mindestens zwei Dimensionen mehr. K-ö-l heisst hier e-g-f. Und d-a-s heisst e-c-d, wird aber nicht so geschrieben, weil es auf den Basslinien liegt. Auch das noch.
Am nächsten Tag hatte ich einen Muskelkater. Ich musste also einiges falsch gemacht haben. Umso mehr, als er sich vor allem in den Beinen und Füssen bemerkbar machte. Was mochten die zu meinen Bemühungen beigetragen haben? Sehr nützlich kann es nicht gewesen sein, aber vielleicht war es notwendig.
Das Geübte hatte sich durch den Nachtschlaf keineswegs befestigt, ganz im Gegenteil. Macht nichts, sagte ich. Ich war darauf gefasst, die einfachsten Dinge tausend Mal wiederholen zu müssen, damit sich neue Gewohnheiten bilden konnten. Am besten gelang meinen Fingern ein Druck auf ihre Taste, aber wenn sich einer heben sollte, gab es immer einen oder zwei, die dachten, das gelte auch für sie. Und wenn sie begriffen, dass das Mitmachen falsch war, begannen sie zu zittern. Oder sie erstarrten einfach. Ein Bild des Jammers. Mein armes Gehirn war von dem, was es mit seinen Fingern anstellen sollte, hoffnungslos überfordert.
Das muss am Alter liegen, hätte ich vielleicht denken sollen. Aber der Gedanke kam mir nicht in den Sinn. Ich dachte, dass all das, was meine Finger konnten, jetzt nicht nur nichts nützte, sondern ihnen geradezu im Wege stand.
Am dritten Tag wachte ich mit dem Gefühl auf, riesengrosse müde warme Pranken zu haben, wo meine Hände gewesen waren. Offenbar hatte mein Gehirn über Nacht ein grosses Areal für sie freigemacht, um Platz zu schaffen für die neuen Aufgaben. Jedenfalls war auch mein Kopf in heller Aufregung, und die gewöhnlichsten Dinge meines Alltags erschienen in neuem Licht.
Und ich beschloss aufzuschreiben, was ich beim Lernen erlebte, damit es nicht wie all mein früheres Lernen in einer verschwommenen Erinnerung versank.
Der hier abgedruckte Text erschien auch in der deutschen Zeitschrift «Das Plateau». Wir danken der Autorin und dem Dörlemann-Verlag für die freundliche Mitarbeit.
Ausgezeichnetes Werk: «Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte», erschienen bei Dörlemann.