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Aufstieg in die Hochliteratur

Es beginnt auf den abschüssigen Schindeln eines Kirchturms. Zwei Taglöhner, Rumtreiber mit langen Haaren, teeren das Dach. Unter ihnen, auf dem getrimmten Rasen des Kirchhofs, eine Tafel mit der Predigt zum Sonntag: Sexualität und Gott. Die beiden blicken hinab auf die Ordnung der Menschen, die nur einen kurzen, freien Fall entfernt liegt. Die Sonne verbrennt […]

Es beginnt auf den abschüssigen Schindeln eines Kirchturms. Zwei Taglöhner, Rumtreiber mit langen Haaren, teeren das Dach. Unter ihnen, auf dem getrimmten Rasen des Kirchhofs, eine Tafel mit der Predigt zum Sonntag: Sexualität und Gott. Die beiden blicken hinab auf die Ordnung der Menschen, die nur einen kurzen, freien Fall entfernt liegt. Die Sonne verbrennt ihre Gesichter. Sie arbeiten ohne Seil. Sorglos der eine, … der ausgleitet. Und schon sind wir mitten drin in einem der grossartigsten ­Bücher über das Bergsteigen. Über ein Leben, das von einem Besitz ergreifen kann wie nur weniges sonst. Vernon Rands Unterarm ist nicht von der harten Arbeit mit Adern überzogen. Er ist einer der Kletterer aus dem Valley. Während die Füsse seines Partners verzweifelt die Luft treten, sind es seine Nerven, die beide retten. Ein Moment, der so schnell vorbei ist, wie er gekommen war. Ihr Blut pocht noch nach. Schwer und bis zum Hals. Während von unten ein Pastor ruft: «Alles in Ordnung bei euch?» – die Stimme des wohlmeinenden Unverständnisses. In «Solo Faces» von James Salter ist weit und breit kein Eiswind, sind keine Schicksalsberge und keine Sieger. Dafür Lakonie und viel Aussenseitertum. In den siebziger Jahren schrieb der grosse amerikanische Schriftsteller ein Drehbuch für seinen Freund Robert Redford, das er später zu einem Roman ­ausbaute. Nicht zu seinem besten, aber zu einem der packendsten und wahrhaftigsten Bücher über das Klettern. Über jene, die einen Weg wählen, in dem Bodenhaftung nichts mehr zählt, deren Halt wie die Griffe in den Felswänden mit jedem Mal kleiner wird. Vernon Rand treibt von Kalifornien nach Chamonix und immer weiter hinaus auf dem messerscharfen Grat zwischen Freiheit und Verlorenheit. Eine literarische Figur, die einen noch mit Sehnsucht erfüllt, während man es längst ahnt. James Salter folgt ihr in knappem Ton, die Symbolik ganz in die Handlung gelegt, beinahe distanziert berichtet er von den Vorgängen am Abgrund, als wäre er nicht selbst jahrelang mit diesen Leuten geklettert. Als Schriftsteller interessiert ihn Grösseres. Und so beschreibt er Vernon Rand in ergreifend schönen Fluchten, in einer Sprache, die einen das Dunkle ­einer Nordwand riechen lässt, bleibt aber bei ihm, wenn der Winter einbricht, Rands Zelt als einziges auf dem Campingplatz zurückbleibt und Schnee und Einsamkeit auf ihm lasten. Wenn er sich von Frauen aushalten lässt. Wenn er zum Landstreicher wird und seine Kleidung wirkt, als wäre es die verstorbener Kameraden. Es gibt auch ein Eiger-Drama, aber ein schäbiges und ohne Rand. Er kommt anders zu Ruhm. Paris liebt ihn. Doch dies ist nicht mehr das einfache Leben. Selbst im Blitzlicht sind die Berge mächtige Metapher für die Welt. Aber eben nur die Metapher. Seine wechselnden Beziehungen festigen bloss sein Schicksal. Zurück in den Felsen wird er zur Legende, die fortlebt und sich verselbständigt. Auch sie braucht ihn irgendwann nicht mehr. Am Ende steht für Vernon Rand nicht der Absturz. Das Glück seiner Rivalen hat er nicht. Dafür eine Frau, die ihn fragt: «Du warst mal in Frankreich?» Vernon Rand ist verglüht. Andere würden sagen, er habe mal für etwas gebrannt. Ganz bestimmt hätte ich vor zwanzig Jahren in «Solo Faces» ein völlig ­anderes Buch gelesen, hätte eine ganz andere Kolumne dazu geschrieben. Was bleibt, ist eine Geschichte, die weit über das Genre hinausragt, weil Salter seine Helden nicht nur dem Berg aussetzt, sondern mit dem Leben konfrontiert. Er geht dort weiter, wo reine Bergliteratur kehrtmacht. Und wenn sich diese erschöpft in Biographien, Erlebnisberichten und Historie, lohnt sich eine Wiederbegehung im ­literarischen Hochgebirge. Die Berge sind als Schauplatz einfach zu grandios, um darin nur Geschichtsstunde zu betreiben.

James Salter: Solo Faces. New York: Little Brown & Co, 1975 (deutsch: In der Wand. Berlin: Berlin Verlag, 2014).

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