Der Fächer
Für ihren Kurzgeschichtenband «Gli anni di Nettuno sulla terra» erhält Anna Ruchat einen der Schweizer Literaturpreise 2019. Lesen Sie hier exklusiv für den «Literarischen Monat» ins Deutsche übertragene Gedichte der Autorin.

Parla così
con l’oro della spada
le ali
raccolte lungo i fianchi
Michele Arcangelo
il suo sguardo antico
è vuoto
ma il piccolo piede
schiaccia
ostinato
il drago della paura.
So spricht er
mit dem Lanzengold
den am Leib
anliegenden Flügeln
Erzengel Michael
sein antiker Blick
ist leer
der kleine Fuss aber
hält
beharrlich
den Drachen der Angst nieder.
22 gennaio 2015
«Fa freddo nella storia
voglio andarmene»
Giorgio Caproni
Alla fine
di un viaggio breve
e intransitivo
il ragazzo si ferma
tra terra e acqua
sfidando un’alba verticale
Gelido
il cielo notturno
non fa domande
ma è al fuoco
che il corpo
infine
chiede accoglienza.
22. Jänner 2015
«Es ist kalt in der Geschichte
ich will ihr entfliehen»
Giorgio Caproni
Am Ende
einer kurzen
nichtzielenden Reise
hält er an
zwischen Erde und Wasser
stellt sich dem senkrechten Tagesanbruch
Frostig
fragt
der Nachthimmel nicht
erst vom Feuer
erbittet
der Körper
Aufnahme.
Per Arianna
Comincia dai piedi il freddo
e poi si allarga
nell’autunno
del corpo anche
se il cielo è sereno
anche se tu
cerchi di fermarlo
con gesti teatrali che scrutano
l’argine del ciclo
in una prospettiva più graffiante
Poi riavvolgi il nastro
della voce
e annunci
che dentro
non c’erano i coltelli
Für Arianna
Die Kälte kriecht hoch von den Füssen
breitet sich aus
im Herbst
des Körpers, auch
wenn der Himmel heiter ist
auch wenn du
sie aufhalten willst
mit theatralischen Gesten, die
aus geschärftem Winkel
den Zyklusdamm abtasten
Dann spulst du das Stimm-
band zurück
und verkündest
dass es dort
keine Messer gab
Una madonna di schiena
prega
nel buio del cespuglio
al Paolo Pini
per i saltimbanchi
che questa sera vanno in scena
senza rete
con le braccia tese oltre l’abisso
il cuore
tra le labbra
e negli occhi
negli occhi
tutto il dramma degli umani
Eine Madonna betet
umgewandt
im dunklen Gebüsch
des Paolo Pini
für die Akrobaten
die diesen Abend auftreten
ohne Netz
die Arme über den Abgrund gestreckt
das Herz
zwischen den Lippen
und in den Augen
in den Augen
der ganze Schmerz der Menschen
Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt
Paul Celan, Corona
Non è lo schianto
la chimera
è il volo
Speranza
«più forte dell’uomo»
che ci strappa
all’esangue cadenza delle ore
all’ostinata
assiduità della pietra
per restituirci
il rischio della vita
Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt
Paul Celan, Corona
Es ist nicht der Absturz
die Chimäre
es ist das Fliegen
Hoffen
«stärker als der Mensch»
das uns losreisst
vom blassen Takt der Stunden
von der sturen
Dauer des Steins
uns das Leben erneut
riskieren lässt
14 novembre 2015
Per Uli Ellenberger
La corda verso l’alto
sei partito con rabbia
all’alba di una domenica
autunnale
già investita di sangue
Che la portassimo via
avevi chiesto mesi prima che
te la strappassimo di dosso, lei
il tuo destino
e subito
tremarono gli orizzonti
nell’implacabile campagna toscana
Tra immobiliaristi e robi vecchi
si stritolava
il senso di una vita
Che avresti venduto la casa
mi hai detto al telefono
che avresti sistemato ogni cosa
e poi
e poi
contro di lei
per lei
hai affrontato
il rovescio del viaggio.
14. November 2015
Für Uli Ellenberger
Der Strick nach oben
bist du wütend gegangen
an einem herbstlichen
schon blutroten
Sonntagmorgen
Dass wir sie wegbringen sollen
hast du Monate davor gebeten, dass
wir sie dir wegreissen sollen, sie
dein Schicksal
und plötzlich
zitterten die Horizonte
in der unversöhnlichen Landschaft der Toskana
Zwischen Maklern und alten Trödlern
zersplitterte
der Sinn eines Lebens
Dass du das Haus verkaufen würdest
hast du mir am Telefon gesagt
dass du alles in Ordnung bringen würdest
und dann
und dann
gegen sie
für sie
hast du die Reise
ins Gegenteil begonnen.
4 aprile 2016
Il mondo degi animali è fatto di silenzi e di salti.
Jean Grenier, Les Îles
Parliamo da sole, noi
che abbiamo figli adulti e una vita
senza soprammobili.
Parliamo da sole
anche sulle scale o in bicicletta
ci prodighiamo
in consigli, raccomandazioni
come fossimo di colpo diventate
figlie
di noi stesse
Parliamo da sole, noi che abbiamo
radici nei capelli
e un lavoro di parole
che fin dal risveglio
in cucina
ci avvince
Parliamo da sole
mentre i gatti ci osservano
e
sornioni
ci seguono
4. April 2016
Die Welt der Tiere ist geschaffen aus Stillen und Sprüngen.
Jean Grenier, Les Îles
Wir führen Selbstgespräche, die
wir erwachsene Kinder haben und ein Leben
ohne Zierrat.
Wir führen Selbstgespräche
auch auf der Stiege oder am Rad
wir ergehen uns
in Ratschlägen, Belehrungen
als wären wir plötzlich
unsere eigenen
Kinder
Wir führen Selbstgespräche, die wir
Wurzeln in den Haaren haben
und eine Arbeit aus Worten
die uns vom Aufwachen an
an die Küche
fesselt
Wir führen Selbstgespräche
während die Katzen uns beobachten
und uns
scheinheilig
folgen
Zu Ruchats ausgezeichnetem Kurzgeschichtenband «Gli anni di Nettuno sulla terra» (Ibis, 2018):
Leben – leicht verschobene, zerstörte, verwirrte Leben, die unbeirrt weitergehen, Richtungen einschlagen, die völlig unvorhersehbar sind: Sie sind die Protagonisten von «Gli anni di Nettuno sulla terra». In zwölf losen Erzählungen – eine für jeden Monat des Jahres, verteilt über vier Jahrzehnte – gibt Anna Ruchat Einblicke in Augenblicke aus zwölf Biografien. Aus alltäglichen, kleinen Momenten heraus entfalten sich Schicksale, die Ruchat kondensiert darstellt, ohne an Tiefe zu verlieren.
Anna Ruchat wurde 1959 in Zürich geboren, wuchs im Tessin und in Rom auf und studierte Philosophie und Literatur in Pavia und Zürich. Die Schriftstellerin und Übersetzerin stellt jeder ihrer Erzählungen ein Ereignis der Zeitgeschichte als Ankerpunkt voran; zwischen dem Geschehen in der «grossen» Welt und den Freuden und Tragödien, die sich im Kleinen des privaten Lebens abspielen, gibt es mal deutliche, mal verstecktere Verbindungen – und manchmal bleibt es einfach beim Nebeneinander. (Alicia Romero)
Ein Zitat aus dem Werk:
«Errore? Speranza. La vita prosegue sempre, anche oltre la distruzione, ma le direzioni che prende sono imprevedibili.»
Fotos: Maurice Haas