Der Kritiker und die Bratwurst
Online Spezial: Die Lokalzeitungen müssen sparen. Das trifft nicht zuletzt die Buchseiten. Und hat mitunter absurde Folgen für uns Kritiker.
Kürzlich wechselte bei meiner Heimatzeitung wieder einmal die Leitung der Wochenendbeilage. Meine Mitarbeit bei diesem Blatt hat eine wechselvolle Geschichte: Seit Mitte der Neunzigerjahre erschienen dort meine ersten Besprechungen überhaupt, hier konnte ich während meines Germanistikstudiums das literaturkritische Schreiben lernen. Aber Mitte der Nullerjahre endete die Zusammenarbeit vorübergehend, nachdem eine neue Chefredaktion alles reformiert hatte. Kultur hatte plötzlich keinen grossen Stellenwert mehr, denn eine neue Methode, mit der man angeblich messen konnte, wie häufig einzelne Artikel gelesen wurden, hatte offenbart, dass sich – Zitat – «keine fünf Leser» für die Bücherseite interessierten. Die neue Wochenendbeilage wurde nun nicht mehr von einem einzelnen Redakteur, sondern am «Newsdesk» produziert. Die Folge? Meine Besprechungen erschienen zwei, drei Jahre lang nicht. Wenn überhaupt, so wurden nun bloss noch «regionale» Titel besprochen. Mir ist diesbezüglich eine ganze, ausladend bebilderte Seite über eine dem «Kult-Nahrungsmittel» fränkische Bratwurst gewidmete Monographie lebhaft in Erinnerung.1 Lange dauerte diese Phase aber nicht, dann übernahm wieder ein literaturaffiner Redaktor die Leitung und fragte mich an, ob ich ihm nicht wieder Rezensionen schicken wolle.
Jetzt, Jahre später, kam es also wieder zu einem Wechsel. Von der neuen, mir unbekannten Redaktorin erntete ich auf meine Rezensionsangebote wochenlang nur Schweigen. Als ich sie endlich erreichte, kam es zu einem bemerkenswerten Telefonat. Ob ich diese Beilage denn überhaupt kennen würde, fragte sie – als ob dort noch nie eine Kritik von mir erschienen wäre. Weiter erklärte sie mir, darin gäbe es doch schon seit längerem keine Buchkritiken mehr – was nicht stimmte, auch wenn diese in letzter Zeit tatsächlich immer unregelmässiger erschienen waren. In bezug auf meine Rezensionsvorschläge könne sie mir, so fügte sie direkt an, wenig Hoffnung machen. Einfach so ein Buch besprechen – das sei nämlich schwierig. Denn warum dieses und nicht jenes? Sie müsse ja damit rechnen, dass gleich ein anderer bei ihr anklopfe und sage: «Also wenn der neue Roman von X bei Ihnen besprochen wird, dann bitte schön auch der von Y!» Das Argument verblüffte mich: Ist es nicht die Aufgabe des Kritikers, aus der Flut der Neuerscheinungen die qualitativ vielversprechendsten, interessantesten Titel auszuwählen? Künftig, so klärte mich meine Gesprächspartnerin auf, zähle bei der Auswahl nur noch ein Merkmal: die regionale Herkunft des Autors! Schliesslich gebe es «auch bei uns viele interessante Schriftstellerinnen und Schriftsteller». Gewiss, aber als Bamberger Kritiker Bamberger Autoren besprechen? Das kann für den Leser schnell ein «Gschmäckle» haben – vor allem, wenn man wie ich von der Mehrfachverwertung seiner Texte lebt und sie im ganzen deutschsprachigen Raum anbietet. Die Redaktorin muss gespürt haben, wie wenig ich von ihrem Vorschlag angetan war. Da kam ihr eine Idee, wie wir doch noch zusammenkommen könnten: Falls es einmal einen Anlass gäbe, den «Tag des Buches» zum Beispiel, könne ich doch auf einer ganzen Seite die hiesigen Buchhändler befragen, welche Titel denn in dieser Saison lesenswert wären…
Ich muss zugeben, dass mich dieser Einfall seitdem verfolgt. Hatte Hans Magnus Enzensberger nicht schon in den Achtzigern die Ersetzung des Kritikers durch den «Zirkulationsagenten» vorhergesehen? Mag ja sein, dass meine Gesprächspartnerin einfach nur keine Ahnung hatte, aber vielleicht zeichnete sich hier auch eine mögliche Zukunft ab: ein Literaturbetrieb ohne Kritiker. Wer wissen will, was er lesen soll, kann ja einfach fragen: Buchhändler, Verlage, Amazon mit seinen schlauen Algorithmen und urteilsfreudigen Lesern – wozu braucht es da noch institutionelle Literaturkritik?
Was bleibt: die vage Hoffnung, dass es nicht der letzte Wechsel in der Redaktion dieser Beilage war.
Oliver Pfohlmann
ist als freier Literaturkritiker zum Glück nicht nur für sein Heimatblatt, sondern unter anderem auch für die «Neue Zürcher Zeitung», die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und den «Tagesspiegel» sowie im Bereich Hörfunk für Deutschlandradio, WDR und SWR tätig. Er ist der Verfasser eines Lexikons zum Thema Literaturkritik («Kleines Lexikon der Literaturkritik», Marburg: LiteraturWissenschaft.de, 2005).
1 Heinrich Höllerl: «Die Bratwurst ist eine Fränkin: Genüssliche Monographie eines Kult-Nahrungsmittels». Würzburg: Echter, 2004.