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«Ein jeder ist Kind der Bücher, die er gelesen hat»

Drei Fragen an Pietro De Marchi, von Vanni Bianconi

Erstens

Dein Buch beginnt mit einem Gedicht über die Schüler der alten Meister der flämischen Malerei, und danach dient dir selbst, wie einem Schüler, das Gedicht eines alten Meisters – Wystan Auden – als Ausgangspunkt. Beide Gedichte sind Ekphrasen alter Gemälde, dein eigenes steht gleichzeitig auch im Dialog mit jenem Audens beziehungsweise es folgt ihm Schritt für Schritt, ohne Einwände zu haben: Das menschliche Leid ist nach wie vor im Hintergrund, während im Vordergrund jemand isst oder etwas anderes tut. Erst dann fügst du einen Pinselstrich hinzu, einen einzigen nur, aber einen sehr konkreten:

 

Und doch

ist auf dem unschuldigen Schnee vom blutigen Rot

keine Spur sichtbar, das ganze Zinnober

verstrich Marten gleichförmig

auf Soldatenröcken und im Wind flatternden Fahnen.

 

Und am Ende fügst du eine Frage an: «Auch das hat seine Bedeutung, / glaubst du nicht?» Sagt dieses Gedicht etwas über dein Verhältnis zu den Meistern aus, zu den Stimmen «der toten Dichter, die uns vorausgingen»?

 

Dieses Gedicht, «Un paesaggio invernale» (Eine Winterlandschaft), gehört zu den letzten, die ich geschrieben habe. Mir war ziemlich bald klar, dass es sich als erstes Gedicht für den Gedichtband eignete, den ich gerade zusammenstellte. Das Bild von Marten van Cleve habe ich letzten Winter in Bologna an einer Ausstellung über die flämischen Maler gesehen, und wie es manchmal geschieht, fühlte ich sofort das Bedürfnis oder sogar die Notwendigkeit, mich mit ihm schreibend auseinanderzusetzen. Audens berühmtes Gedicht «Musée des Beaux Arts», aus dem ich eingangs ein paar Worte zitiere, bezieht sich auf das nicht minder berühmte Gemälde «Der Sturz des Ikarus» von Pieter Bruegel und handelt vom Unglück und den Tragö-dien, die über jemanden hereinbrechen, während das Leben der anderen normal weitergeht. Im Gemälde von Marten van Cleve geht es um einen anderen Aspekt. Es regt an, darüber nachzudenken, warum dem Täter oft mehr Aufmerksamkeit zukommt als den Opfern einer Gewalttat. Deswegen ist es so aktuell: Wir erfahren von den Medien beinahe alles über einen geistesgestörten Piloten, der sein Flugzeug in eine Felswand steuert, oder einen Kriminellen, der sich inmitten einer Menschen-menge in die Luft sprengt, jedoch nichts oder nur wenig über die vielen Unschuldigen, die zusammen mit ihnen in den Tod gerissen werden. Das sind nur zwei Beispiele einer leider -riesigen Zahl von Fällen.

Mein Text nimmt das Motiv auf, er will dazu anregen, nicht nur das zu sehen, was vor unseren Augen ist, auch an das zu denken, was im Schatten bleibt. Aber ich stimme dir zu, dass das Gedicht sicher auch eine metaliterarische Bedeutung aufweist: Wir können von den alten Meistern lernen, von den antiken wie den modernen, von Bruegel und seinen Schülern oder Zeitgenossen, und genauso von Auden und den anderen Lyrikern des 20. Jahrhunderts, die die Tradition schreibend erneuerten, den Dialog mit ihren Vorgängern fortsetzten. Ich schätze und bewundere manche meiner Altersgenossen sehr, am meisten haben mir jedoch zwei Autoren der älteren Generation gegeben: Giorgio Orelli und Luigi Meneghello. Ich hatte auch das Glück, ihnen persönlich zu begegnen, sie aufsuchen zu dürfen wie ein Schüler seine Meister in der Werkstatt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es sich um zwei Schriftsteller der Generation meines Vaters handelt, dem ich ebenfalls viel verdanke. Wenn wir beim Bild der Generationen bleiben wollen, würde ich auf jeden Fall Eugenio Montale, den ich seit meiner Gymnasialzeit kenne und lese, zu meinen «Grossvätern» zählen, und Vittorio Sereni zu den alten «Onkeln». Aber selbstverständlich wird man allenthalben fündig, und wenn ich die Namen weiterer Autoren aufzählen müsste, die mich sehr berührt haben, würde ich spontan Jorge Luis Borges, Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Wislawa Szymborska nennen. Nicht zufällig handelt es sich um Autoren, die ihrerseits auf andere Lektüren verweisen.

 

Zweitens

 

In «I remember / Je me souviens», einem der Gedichte, die an den Vater erinnern, lesen wir: «Weil ich da lernte, dass man die Welt immer mit dem Blick des ersten Mals sieht.» Und in «Miracolo a Milano»:

 

Aber das wahre Wunder wäre,

dir wie vor dem ersten Mal

erneut zu begegnen,

ohne zu wissen, dass du mir

den ersten Kuss geben würdest.

 

Diese Zeilen verweisen auf einen der originellsten Aspekte des Buches, darauf, wie du deinen Blick in der Zeit verortest, also auf dein Verhältnis zu Gegenwart und Vergangenheit. Es wird im Laufe des Buches so fein moduliert, dass ich mich davor hüte, es zusammenfassen zu wollen. Man darf aber sagen, dass es dir gelingt, das Vergangene höchst gegenwärtig werden zu lassen, ohne dass du ins Nostalgische verfällst. Vielleicht ist es wie die Situation, als du wegen eines Blutergusses nicht mehr sehen konntest (siehe «Augenlicht»), aber dennoch nicht daran gezweifelt hast, dass die Dinge da waren, direkt vor dir.

 

Die Dreiecksverbindung, die du zwischen diesen drei Texten herstellst, überrascht mich, sie scheint mir aber zutreffend und freut mich sehr, weil die Leser die Bücher mit ihrer Sensibilität und Lebens- und Leseerfahrung bekanntlich bereichern. Die Zeit ist in unserer Kultur natürlich eines der wichtigsten Themen, vom heiligen Augustin bis Proust, ohne Einstein zu vergessen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen, ja, ich finde auch, dass in meinen Werken kein nostalgischer Ton vorherrscht, auch wenn Lyrik unweigerlich eine elegische Komponente aufweist. Das Vergangene ist vergangen, die Toten sind tot, doch eine Art segensreiche Illusion lässt uns die Vergangenheit als noch gegenwärtig und die Toten als noch lebendig empfinden. An dieser Stelle kommt die Funktion des Schreibens ins Spiel, es bildet auf seine Weise das Leben nach und sorgt für eine zwar unvollendete, aber unerlässliche Rekon-struktion. Wenn man nicht schreibt, wird das, was lebendig war, nie wieder lebendig. Da ich nicht an ein Weiterleben im Jenseits glaube, besteht für mich die einzige Form eines Lebens nach dem Leben in der Erinnerung der anderen. Doch die Erinnerung ist immer bedroht, sie neigt dazu, zu verblassen, braucht Hilfe (das Schreiben, Bilder), um belebt zu werden.

Zu diesem Thema möchte ich noch etwas anfügen: Das Leben, das ich mit meinen Gedichten oder meiner Prosa «retten» möchte, ist das Leben der anderen, der Menschen, die ich kennengelernt habe oder denen ich auch nur flüchtig begegnet bin, das Leben derjenigen, die selbst nicht schreiben. Mit anderen Worten ist die autobiografische Komponente auch für mich Mittel und nicht Zweck. Das Ich, das sich bisweilen auch hinter einem Du verbirgt (dem «falschwahren Du der Dichter», wie es jemand ausgedrückt hat), ist für mich ein Hörinstrument und ein Verstärker der abgefangenen Stimmen. Der Text, den mein Freund Rodolfo Zucco zum Buch geschrieben hat, scheint mir treffend und schmeichelt mir natürlich auch. Mir scheint, dass er auch für die Leserinnen und Leser des «Literarischen Monats» aufschlussreich ist, wenn sie mein Schaffen besser verstehen wollen:

«Abhebende antike Flugzeuge, Seifenblasen… bei Metaphern über das Gedichteschreiben greift man oft auf das Bild einer Loslösung von der Erde, des Schwebens zurück. Die Metapher, die Pietro De Marchi im titelgebenden Gedicht ‹La carta delle arance› [in dem es um ‹Raketen› aus Orangenpapier geht] dafür gefunden hat, führt uns auf direktem Weg zu den Beweggründen und Triebkräften eines literarischen Schaffens, in dem das Bewusstsein der Vergänglichkeit und, in Auflehnung dagegen, das Beharren auf einer Wiederholung des Wunders eine zentrale Rolle spielen. Wie am Ende des Gedichtbandes und der mit ihm abgeschlossenen Trilogie klar ist, gelingt es De Marchi – Orangenpapier um Orangenpapier, Vers um Vers –, uns im kleinen Protagonisten des Abschiedsgedichts selbst erkennen zu lassen. Es gelingt ihm, weil er den Wunsch befeuert hat, dabei zu sein, sich äussern zu dürfen, für eine kurze Bemerkung, die uns unsterblich machen soll, selbst auf der Bühne erscheinen zu dürfen. Bis der Wunsch sich auflöst, sich verwirklicht, indem man sich diesem ausserordentlichen Sammler von Stimmen, -Redewendungen, Geschichten und Rhythmen anvertraut.»

 

Drittens

 

Der Gottfried Keller-Preis orientiert sich stark am zeitgenössischen Schaffen. 2014 ging er an das Spoken-Word-Kollektiv «Bern ist überall», diesen Herbst werden zwei Bücher ausgezeichnet, die gerade erst erscheinen, ein kollektives Schreib-experiment von AJAR und deines. Ich habe den Eindruck, dass die Lyrik – eine bestimmte Art von Lyrik – sozusagen von der Gegenwart eingeholt worden ist, ohne dass sie sich selbst besonders bewegt hätte (vermutlich bin ich schon von der Auffassung von Zeit beeinflusst, die dein Buch vermittelt…). In vielen guten zeitgenössischen belletristischen Werken stossen wir auf ein schreibendes Subjekt, auf Lektüren und Schreibmethoden, Imitationen und Übersetzungen, auf ein heterogenes Nebeneinander von Formen: Das alles sind Elemente, die generell einer bestimmten Art von Lyrik eigen sind, und im Speziellen auch deine Elemente, die nach den Erfahrungen der Postmoderne die Hoffnung erneuern, es in einem bestimmten Moment des Schreib- und Leseprozesses mit etwas Wirklichem zu tun zu haben. Warum greifst du auf diese Vielfalt von Formen und Stilen, Bezügen und Traditionen zurück? Und wie siehst du das -Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit?

 

Ich denke, dass die Vielfalt, die du ansprichst – eine Vielfalt vor allem in bezug auf den Ton (ernst und leicht, tragisch und komisch) und die Form (freies Metrum oder anklingendes -Metrum wie in den Trompe-l’œil-Sonetten) –, die Vielfalt des Lebens wiedergibt; die Vermischung von Gedichten und Prosa widerspiegelt die Arten, mit den unterschiedlichen Lebenssituationen umzugehen. Wie ein Roman soll auch ein Gedichtband unterschiedliches, heterogenes Material enthalten dürfen, -Material, das Reaktionen und Gegenreaktionen, Variationen und die Wiederaufnahme bestimmter Motive in unterschied-lichen Registern auslöst. Es ist vielleicht kein Zufall, dass mich von den Prosabüchern jene am meisten interessieren, in denen sich die Genres Erzählung, Essay und Autobiografie -vermischen.

Was die Bezüge auf verschiedene Traditionen betrifft, -würde ich sagen, dass sie bis zu einem gewissen Grad meine Lektüren widerspiegeln, die vertieft sein können, aber auch frei vagabundierend, sogar erratisch. Ohne ungeordnetes Lesen gäbe es keine Schriftsteller, sagte, wenn ich mich nicht irre, -Elias Canetti. Ein jeder ist Kind der Bücher, die er gelesen hat, und auch der Bücher, die die anderen gelesen haben und von denen sie etwas, einen Splitter, ein Fragment, aufgenommen haben. In meinem neuen Buch gibt es, noch ausgeprägter als in den beiden vorangehenden, zahlreiche Zitate, Paraphrasen, Übersetzungen oder Imitationen anderer Autoren: Das sind die Früchte der vielleicht auch zufälligen Lesebegegnungen, die in mir eine Spur hinterlassen haben, weil sie mich tief berührten, ein Gefühl intensiver Freude oder grossen Schmerzes auslösten und zugleich den Wunsch weckten, das Gleiche mit den -Wörtern meiner Sprache noch einmal zu sagen.

Der letzte Teil deiner Frage betrifft die Idealvorstellungen. Was könnte man dazu Nichtbanales sagen? Wie wir wissen, ist die Literatur aus Wörtern gemacht, aber sie ist unserer Wirklichkeit dennoch nicht fremd, sie gleicht den Träumen, den Produkten der Vorstellungskraft oder des Denkens. Italo Calvino unterschied in einem Vortrag die geschriebene von der nicht geschriebenen Welt, für mich sind die beiden aber nicht inkompatibel, ich erkenne zwischen ihnen keine klare Trennung, -vielmehr nehme ich wahr, dass sie ständig ineinanderfliessen. Nicht nur, dass die Literatur uns hilft, die Wirklichkeit zu verstehen und zu interpretieren, und dass uns umgekehrt die -Lebenserfahrungen zu besseren Lesern machen. Die Wörter grosser Werke gehören für mich zu derselben verbalen «Wirklichkeit» wie jene, die zum Beispiel von unbekannten Passanten ausgesprochen werden: Eine Passage aus Pasternaks «Doktor Schiwago», ein von meinem Vater vorgelesener Mundartsatz aus einem Witzbuch und ein Wortwechsel am Geldautomaten, den ich beim Schlangestehen aufschnappe, können bestens in ein und demselben Text zusammentreffen und miteinander in Dialog stehen (ich beziehe mich hier auf einen Prosatext aus «La carta delle arance»). Im Grunde ist das etwas, was wir, -neben vielen anderen Dingen, von Dante lernen können. Er baute in seine Poesie, die gleichzeitig die grösste, realistischste und metaphysischste Poesie war, alles Mögliche ein, von den geflügelten Worten Vergils und der Bibel bis zu skurrileren -Zitaten seiner Zeitgenossen.


Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Sauser.


Pietro De Marchi
ist Schriftsteller, Lyriker und Literaturwissenschafter. Neben Lehraufträgen an den -Universitäten Bern und Neuchâtel ist er als Titularprofessor für Italienische Literatur-wissenschaft an der Universität Zürich tätig. Sein Gedichtband «La carta delle arance», für den er mit dem Gottfried Keller-Preis ausgezeichnet wird, erscheint in diesem Monat bei Edizioni Casagrande.


Vanni Bianconi
ist Dichter und literarischer Übersetzer, u.a. von W. H. Auden, William Faulkner und W. Somerset Maugham. Er ist Gründer des «Babel»-Festivals für Literatur und Übersetzung.

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