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Einmal mit alles und viel scharf

Marlon James:
A Brief History of Seven Killings.
New York: Riverhead, 2015.

Jamaika, 1976. Bob Marley steht vorm grössten Auftritt seines Lebens: ein Friedenskonzert, gratis, organisiert vom Premierminister, der um seine Wiederwahl bangt. Jamaika ist zerrissen zwischen Gangs, CIA und der Hoffnung, die von «the Singer», wie Marley genannt wird, ausgeht: Politiker eliminieren ihre Gegner, Kubaner agitieren, Kolumbianer rekrutieren Drogenschmuggler, Soldaten massakrieren Zivilisten und die, die können, emigrieren in die USA. Dann überfallen Gangster the Singer, wollen ihn, seine Frau, seine Band, seinen Manager erschiessen.

Mit der Geschichte dieses gescheiterten Mordanschlags lockt uns Marlon James in ein Epos, das ebenso gewaltig wie gewalttätig ist, ebenso lyrisch wie kalt, poetisch an den einen Stellen, dann wutschnaubend, um schliesslich in einer Serie so obszöner Flüche zu münden, dass selbst Shakespeare vor Neid erblassen würde.

«A Brief History of Seven Killings» besteht aus fünf Abschnitten, die zwischen 1976 und 1991 spielen. Jeder dieser Abschnitte ist eingeteilt in Kapitel, die aus der Sicht je eines Ich-Erzählers verfasst sind. Sie kommen daher als stream of consciousness, als innere Monologe und Bewusstseinsströme. Heisst: wir nehmen ganz ungefiltert wahr, was Gangster, Journalisten, Geheimagenten und verdeckte Ermittler, Rastafaris und Bob-Marley-Hasser wahrnehmen. Kein Erzähler interveniert. Es bleibt ganz bei den Wahrnehmungen, Erinnerungen und Ängsten der Figuren. So verschieden diese (es sind mehr als 70) sind, so verschieden sind auch die verwendeten literarischen Mittel: stakkatohafter Drogentrip, brachialprosaischer Blutrausch oder langsam sich entfaltende Meditation. Alles da.

Und Musik – hier ist überall Musik: der Roman wartet mit allerlei Anspielungen auf Beatles, Dylan, Marley, Desmond Dekker, Peter Tosh und Hawkwind auf. Sie tragen nicht nur zum zeitlichen Kolorit bei, sondern sie sind, gestreamt während der Lektüre, ein abwechslungsreicher, oft genug seltsamer Klangteppich zum Buch.

Seltsam wie auch der Roman ab und an. Oder was soll man davon halten, wenn ein Erschossener seine Erschiessung in der ersten Person Singular beschreibt? Samt Hinweis darauf, wie ihm der Streifschuss die Zunge verbrennt? Natürlich wird hier mit den Grenzen der Glaubwürdigkeit des Ich-Erzählers, mit einer der Grundbedingungen dieses Romans, gespielt. Das aber kann Marlon James wesentlich besser. Am eindringlichsten ist sein Roman denn auch dort, wo er sich am radikalsten an die eingeschränkten Perspektiven seiner Protagonisten hält. Dort, wo die Selbstgerechtigkeit der Lynchjustiz aus der Warte eines durchgeknallten Gangbosses erfahrbar wird. Dort, wo wir mitten in der Nacht aufwachen, und es sitzt uns ein Auftragsmörder auf den Füssen. Nicht nur an diesen Stellen gilt: Das Buch ist eine Zumutung! Das reinste Mäandern zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Albträumen und sehr realer Gewalt. Ein verdammtes Hin und Her zwischen Wahrnehmungen, erinnerter und erzählter Zeit, Lebenden und Toten, zwischen Kapiteln und Personenverzeichnis. Ein Anschlag auf diesen ganzen «Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte»-Scheiss, geschrieben mit alles. Und mit viel scharf.

Gegen Ende veräppelt sich der Roman aufs lesenswerteste: «Ich mag Reduktion. Eindampfen. Rausstreichen», denkt sich da eine Figur. Das kann man von Marlon James nicht sagen. Zum Glück! Denn genau diese Spannung zwischen radikaler Zuspitzung und ausladender Flächigkeit, zwischen dem Titel und den 700 Seiten erzählerischen Exzesses macht die strukturelle Ironie dieses verstörend guten Werkes aus.


Gregor Szyndler
ist Schriftsteller, Kulturjournalist und Volontär dieser Zeitschrift. Er lebt in Basel.

 

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