Gipfel der Münchhausiaden
Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen. Die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten. Zürich: AS Verlag, 2011.
«…und immer diese Schmerzen! Wenn wir erst unsere Lungen zu Reibeisen keuchen und der Eissturm sich in unseren Gesichtern festbeisst, wenn er am Rucksack zerrt und mit Millionen Nadeln selbst eisernsten Willen zu durchlöchern sucht – auf diesem geisterhaften Gletscher mit seinen Spaltenmündern, die einem in diesen Stunden der Schrecken wie einladende Kuhlen vorkommen, in die man sich am liebsten hineinlegte und alles wäre gut. Vorbei. Der Strapazen schneeweiches Ende.» Aufreizend harmlos klickerten die Eiswürfel im Whiskeyglas. Aus der schwülwarmen Nacht Kathmandus erschien ein Kellner mit weissen Handschuhen, schritt über den von Fackeln gesäumten Weg durch den Garten des Hotels Shangri-La und reichte eine Zigarrenkiste. Starker Tobak hing in der Luft. «Ihr ahnt nicht, wie sehr ich mir wünsche, wir hätten es schon hinter uns.» So ging sie damals los, meine erste Expedition. Ich war drauf und dran, die Bergausrüstung gegen eine Enfield einzutauschen, den drohenden Himalajahorror gegen ein indisches Motorradvergnügen. Doch dann fiel mir ein zerlesenes, auf rosa Klopapier gedrucktes Buch in die Hände, das in Nepal in jedem gutsortierten Strassenbüdchen aufliegt: «The Ascent of Rum Doodle» von W.E. Bowman, die heilsame Parodie auf den martialischen Nimbus, mit dem sich die wenig berühmten Bergsteiger gerne umgeben. Der ehrwürdige British Alpine Club als exzentrischer Haufen von Schildbürgern, die in Yogistan einen 12 000er ganz ohne ihren Scout besteigen müssen, da dieser sich unablässig mit der Nachhut verirrt, und die sich vornehmlich durch die schlechte Küche im Basislager zum Gipfelsturm gedrängt sehen. An sich wäre die alpine Literatur eine permanente Einladung zur Persiflage, wird sie doch nicht selten von Helden geschrieben, die am Schreibtisch etwas über sich hinauswachsen. Auf derartige Selbstdarstellung folgt stante pede die Gegendarstellung (erboster Seilpartner), die wiederum sofortiger Richtigstellung bedarf (übergangener Zeltkamerad). Solche Triptycha sind eigentliche Klassiker des Genres. Berühmtestes Beispiel «Into Thin Air». Wie man aus dem grossen Everest-Unglück von 1996 einen Bestseller macht, wusste Jon Krakauer so gut, dass er eine ganze Lawine von Gegenpublikationen auslöste. Die Opfer seiner Dramaturgie schrieben im Namen der Opfer am Berg ein Buch nach dem anderen, um der Wahrheit aus der Gletscherspalte zu helfen – vor allem natürlich der eigenen. Dass Propheten und Religionsstifter ausgerechnet vom Berge zurückkehrten, um von der Wahrheit zu künden, wirkt heute wie ein Stilbruch. Es scheint eher, als seien die Berge nicht Orte der Klarheit, sondern eine gigantische Nebelmaschine. Wohl auch deshalb tritt aus ihnen zuweilen grosse Literatur hervor. Was wäre uns entgangen, hätten den Fextaler Bergführer Klucker die Schilderungen seines russischen Gastes nicht dermassen in Rage versetzt, dass er sich förmlich gezwungen sah, den Pickel mit der Feder zu tauschen, um ihn, nun gar nicht mehr wortkarg, mit einer kompletten Autobiographie hinwegzufegen? Sein von Emil Zopfi neu aufgelegtes Vermächtnis war 2010 die grosse Entdeckung in der Schweizer Bergliteratur. Ein Platz, der 2011 Daniel Anker gebührt: Ihm verdanken wir, dass die fabulösen Abenteuer von «Tartarin in den Alpen» wieder greifbar sind. Der an Charme und Leibesfülle gewichtige Präsident des Alpenclubs einer südfranzösischen Hügelkette bricht in die Schweiz auf, um dort Grosses zu besteigen und solcherart einen infamen Angriff auf seinen Vorsitz zu vereiteln. Behängt mit klirrender Ausrüstung schnauft er auf die Rigi, muss erfahren, dass sein hochverehrter Tell nur eine Sage ist und die Schweiz ein von Juni bis Oktober geöffneter Kursaal, betrieben von einer «Compagnie» mit Sitz in London und Genf. Weiter durchleidet er eine Liebesgeschichte mit einer russischen Revolutionärin, die Besteigung der Jungfrau und ein richtiges kleines Bergdrama am Montblanc, bevor er in seine lavendelduftende Provence zurückkehren darf. Ein Lesehöchstvergnügen, das Alphonse Daudet im Jahre 1882 vorlegte und das wir mit viel Witz illustriert neu geniessen können. Auch dank der Einführung von Daniel Anker. Kenntnisreich spannend deckt er die historischen Seitenhiebe auf, schafft Aktualitätsbezüge und weist auf die Fülle von Alpingeschichte hin, inmitten dieser sich überschlagenden Lügenabenteuer. Schade, dass der herrlichen Satire so wenig literarische Nachsteiger folgten. Humoristisch gäbe es noch einige Gipfel zu holen.