Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Hinter Nischnje Selischtsche

Der König der Ziegen.

Hinter Nischnje Selischtsche
Urs Mannhart, fotografiert von Beat Schweizer.

Der König ist wieder da. Hinter meine Karrette gebückt sehe ich ihn kommen. Den schmalen alten König mit seinem müden Gang und der faltenverzierten Haut. In seiner üblichen, in seiner anders nicht zu denkenden Aufmachung kommt er auf den Hof, in diesen Kleidern, die er nicht anders trägt als Tiere ihr Fell.

Natürlich kann man Kleider auch waschen. Aber der König ist ledig, altledig auf eine auch junge Art, und also gibt es keine Frau, die ihm die Wäsche macht. Im übrigen ist das Waschen unpraktisch, weil sich Kleider, die gerade gewaschen werden, nicht tragen lassen, und nackt Ziegen zu hüten, ziemt sich nicht. Und ist es nicht so, dass die Sonne selbst, also so, wie sie heute über den Karpaten steht, eine tiefe, trockene Hitze ausstrahlend –, dass die Sonne selbst reinigend wirkt? Bringt sie nicht den alten Dreck dazu, schön trocken zu werden, sich in willenlosen Bröckchen vom Stoff zu lösen?

Ja, der König ist wieder da. Wie ein wohlerzogener Hund wartet er vor der Tür; sein höfliches Auf-das-Gesehenwerden-Warten will bedeuten, er würde sich freuen über einen Schluck, über ein Wort.

Die unermüdliche, sich den ganzen wie eine dehnbare Schnur sich hinziehenden Tag für alle möglichen und unmöglichen Geschöpfe aufopfernde Jolana serviert ihm einen Kaffee. Lädt ihn ein, am schönen alten Tisch unter dem Vordach Platz zu nehmen. Und noch ehe er sich setzt, noch ehe er, der zahnlose, alkoholversehrte Ziegenhirt, zu einer Ruhe gefunden hat, beginnt er schon mit der jüngsten Ziegengeschichte. Wobei der lange graue Schnauzbart wie der Kolben eines Dieselmotors auf und ab geht und seine Augen überschwemmt werden von einem Funkeln, als bringe gerade diese neue Geschichte die Poesie und die seelenerheiternden Schicksalskurven des menschlichen Daseins zum Leuchten wie keine vor ihr.

König nennen sie ihn. Spielt es eine Rolle, dass dies nur sein Familienname ist? Bestrickend ist es, einen derart sympathischen und bescheidenen König zu sehen. Ihn beobachten zu können, während ich Löwenzahn um Löwenzahn, Amarant um Amarant aus dem Boden hole und in die Karrette lege. Und immer ist es Jolana, die dem König eine Frucht zusteckt oder eine Tasse kredenzt, denn die anderen hier behaupten glaubwürdig, sie würden von dem, was beim König unter dem Schnauzbart hervorpurzelt, nichts verstehen, keine zwetschgensirupsüsse Silbe.

Wenig später hat sich die neuste Geschichte auch schon erzählt. Eine Geschichte war’s wie ein junger Baum: ein paar Äste, die in einzigartiger Weise mit einem Stamm zusammenhängen, aber nichts, das sich nicht zwischen drei, vier Schlucken schildern liesse.

Der König bedankt sich, blinzelt hinaus in den heiterhellen Nachmittag, hebt die Hand zum Gruss – und zwei laubrauschende Windböen später geht hinter dem Stall und im angrenzenden Buchenwald das ohrenverwöhnende Gebimmel los: Mit den freudig erregten Ziegen zieht der König ins Grün.

Ich schaue ihm hinterher, schaue über die Rücken der Hügel, die dieses Kaff in den Karpaten umgeben, in das mich die Zufälle geschickt haben, in das kaum artikulierbare Nischnje Selischtsche. Vier, fünf Blätter eines prächtigen, hüfthohen Amarants, der hier mit einem grossartigen Trotz auf der Wiese steht, mit einem Trotz, wie ihn allein sogenannte Unkräuter hinbekommen, rolle ich zu einem würzigen Imbiss, den ich mir munden lasse, ehe ich den Rest der kiloschweren Pflanze auf die Karrette lade und das ganze Fuder zu den jungen Schweinen fahre, die heute aufgrund eines auch von der örtlichen Käserei eingehaltenen katholischen Feiertages kein Futter geliefert bekommen – nur das, was ich für sie aus der Wiese hole. Rüber über den Zaun also mit dem Kraut, lang lebe der König, gelobt seien die Karpaten, und der Dreck unter den Nägeln sei mir das wertvollste Souvenir.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!