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Im Sog der Postkartenschweiz

Schöne Schweiz. Beautiful Switzerland. Zürich: Applaus-Verlag, 2013.

Zu den besten Bergtouren gehören jene, auf denen man einfach stehen geblieben ist. Irgendwo zwischen dem Weitweg, wo man hinwollte, und dem Alles, von dem man wegwollte. Plötzlich findet man sich liegen geblieben auf einer Wiese wieder. An einem moosbewachsenen Fels. Auf einer Lichtung, die sich vor allem im Kopf aufgetan hat. Bei der Rückkehr gibt’s von keinem Gipfel zu berichten, man könnte nicht einmal genau sagen, wo man gewesen ist, aber der Blick hat sich dennoch verändert. Vielleicht gerade deshalb, weil die neugewonnene Perspektive keine von oben herab war. Beim hier vorgestellten Buch verhält es sich genauso. Es ist unspektakulär und mitteilsam wie ein Steinmann und wahrlich kein Wälzer. In Minuten hat man es durchgeblättert, genussreich betrachtet – und hat doch alles verpasst. Man kann es nicht durchschreiten, man muss ab und zu in ihm stehenbleiben. Unter dem Titel «Schöne Schweiz» versammeln sich 40 historische Plakate aus einer Zeit, als nicht die Überfülle die Werbung beherrschte, sondern Eleganz und Klarheit. Es waren die Schweizerischen Bundesbahnen, die mit ihren waghalsigen Bauten, die selbst schon Sehenswürdigkeiten waren, die Welt verblüfften, um danach mit ihrem Engagement für das Bild der Schweiz im Ausland auch noch Meilensteine in der Kommunikation zu setzen. Es galt wohl den etwas hilflosen Ferienorten mit ihren Werbeerzeugnissen, die heutzutage zu Recht vergessen und nur in Publikationen mit hämischen Titeln zu finden sind, eine stilvollere Heimat zu geben. Hierfür lancierten die SBB im Jahre 1903 einen Wettbewerb für alle Schweizer und in der Schweiz wohnhaften Künstler zur Gestaltung von Werbeplakaten. Diese Werke sind Klassiker geworden und beeinflussten die Plakatkunst weltweit. Sie offenbaren auf den ersten Blick die zeitlose Schönheit der Schweizer Berge und Seen und machen Sehnsuchtsorte aus ihnen. Der zweite Blick hingegen lässt einen versinken. Was es in dieser reduzierten Bildwelt aus heutiger Sicht zu entdecken gibt, lässt dieses Bilderbuch zum Schmöker werden. Wer kurz innehält, dem reisst der Gedankenstrom nicht mehr ab. Beim Anblick von Emil Cardinaux’ Matterhorn, leuchtend golden vor lila Hintergrund, die Niederungen in vornehmes Schwarz gesunken, fragt man sich: Wieso ist heute das Vertrauen in die ikonische Anziehungskraft der Schweizer Naturmonumente verlorengegangen? Ruft der Berg wirklich nach Hüpfburgen und trümmligen Seilparks? Oder: Im richtigen Strich gezeichnet löst der Mann im Basler Bahnhofbuffet mit seinem Rotwein und aller Zeit der Welt mehr Fernweh aus als ein vor Aktivitäten hysterischer TripAdvisor. Sind es nicht Stimmungen, die uns an einen Ort ziehen? Zum Beispiel die Südseestimmung am Lago, wenn wir Mario Pescinis Darstellung von Lugano betrachten; durch Palmblätter blickt man auf die erleuchtete Bucht, und nein, es ist kein Vulkan, der sich dort erhebt, sondern der Monte San Salvatore. Ist es gelogen, wenn Emil Huber den Zürcher Bellevueplatz so mondän aussehen lässt, als stünde er in einer Reihe mit dem Times Square und den Champs-Elysées? Immerhin, die Details stimmen. Wäre es nicht ehrlicher, auch heute wieder auf Tourismusplakate zu schreiben: «Für schöne Autofahrten die Schweiz. Verbilligtes Touristenbenzin»? Sieht doch jede Haarnadelkurve in den Schweizer Alpen mehr Motorradfahrer und Classic Cars als viele Rallyestrecken Europas. Wieso wurde die Arosa-Schönheit im durchsichtigen, wirklich durchsichtigen Bikini erst Jahrzehnte später in unseren medial durchsexualisierten Zeiten zensiert? Würde das touristische Schweizbild aussagekräftiger, liesse man wieder die Kunst ans Werk anstelle der Marketingexperten? Ein Plakat von Thomas Hirschhorn für die Innerschweiz? Der Gotthard ist schon von HR Giger dargestellt worden – und Dieter Meier hat den Rheinfall besungen. Die Gedanken verlieren sich schnell in diesen historischen Plakaten, die sich auch heraus-reissen und als kontemplative Postkarten verschicken lassen. Ein Barbar natürlich, der so etwas einem Buch antut. Und doch eine schöne Verbeugung der Buchgestalter vor der Multioptionsgesellschaft.

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