Im Wahn der Anstalten
Vom «Psychopathen» zu «unserem Schweizer Schriftsteller»: Wie im und ums Irrenhaus herum aus dem hoffnungslosen Fall die Literaturikone Friedrich Glauser wurde.
Die damaligen Irrenanstalten liessen gefügigen Patienten Raum für «künstlerische» Produktionen, was neben der Arbeit im Landwirtschaftsbetrieb oder – im Fall von Glauser − als Aktenabschreiber zur Beschäftigungstherapie gehörte. Immer wieder wusste Glauser ein gewisses Vertrauen und auch Respekt bei den Ärzten zu gewinnen. Später rückte er, wenn es «draussen» wieder einmal prekär wurde, mitunter «freiwillig» in die Anstalt ein. Bis zu seinem Tod wird er trotzdem insgesamt sechseinhalb Jahre in psychiatrischen Anstalten verbringen – und einen guten Teil seines Werks im engeren oder weiteren Zusammenhang mit ihnen schaffen. «Zusammenhang» meint nicht nur, dass er im geschützten Rahmen schreiben konnte, sondern dass er die Irrenanstalt selbst zum Schauplatz und Thema vieler Texte machte. Das gilt insbesondere für seinen Anstaltsroman «Matto regiert», der dem Irrenhaus ein poetisches Monument setzte.
Nachdem er im Mai 1936, nach vierjähriger ununterbrochener Internierung zunächst in Münsingen, dann in der «Waldau», wieder einmal entlassen worden war, schrieb er an seinen Vormund: «Der letzte Aufenthalt in der Waldau war eminent fruchtbar (ich sage das ohne Ironie), und ich glaube auch, dass die Romane nicht entstanden wären, wenn ich im November nicht dahin zurückgekehrt wäre.» Glauser erlebte nun so etwas wie einen Höhepunkt von so etwas wie einer Karriere. Als er mit «Wachtmeister Studer» noch aus der Anstalt heraus in Literatenkreisen und in der Öffentlichkeit Bekanntheit erlangte, die er dann mit dem in der «Waldau» verfassten «Matto» sensationsartig steigern konnte, hatte er in seiner zwanzigjährigen Schriftstellerei schon gut hundertfünfzig Erzählungen und Essays geschrieben. Die «Zürcher Illustrierte», die in den 1930er Jahren führende publikumsnahe Kulturzeitschrift, brachte 1937 den dritten in der Anstalt entstandenen Studer-Roman «Die Fieberkurve» «unseres Schweizer Autors» mit einem Bildporträt auf der Titelseite und einem Essay des Autors über die Anfänge seines Schreibens gross heraus. So sehr Glauser diesen Erfolg brauchte, um unabhängig existieren zu können, und wegen seines Selbstwertgefühls begrüsste, so sehr beargwöhnte er den Ruhm, zumal einen, den er der Einreihung in die «geistige Landesverteidigung» zu verdanken hatte.2
Glauser, den vor 1920 im internationalen Zürich und Ascona noch die «interessante» Aura des Poète maudit umgab, konnte nicht wissen, dass die sozialkritische Literaturwissenschaft der 1970er Jahre ihn wegen seiner angeblichen Antikarriere als «Anwalt» der Aussenseiter und Armen einmal mehr etikettieren würde. Zum «Spiegel der Gesellschaft» wird diese biographistische Sicht auf Glausers Werk auch heute immer wieder in den Feuilletons aufpoliert, vor allem dann, wenn die erfolgsversessene Gegenwart sich ein Gewissen herbeizitiert. Dabei kommt das intellektuelle, poetische und analytische Potential seiner Texte kaum zur Geltung. Dies gilt insbesondere für das Phänomen, das die Lebensdaten dominiert, nämlich die Institutionen, in deren «Obhut» Glauser mehr als die Hälfte seiner erwachsenen Lebenszeit zugebracht hat.
Internat, Gefängnis und Irrenanstalt werden gemeinhin als Orte der Weg- und Einsperrung zur Neutralisierung gefährlicher Subjekte wahrgenommen. Der repressive Zweck des Freiheitsentzugs als Strafe überwiegt gegenüber der Absicht der Besserung, mit der diese Institutionen im Geist der Aufklärung gegründet worden sind. Glausers Lebens- und Schreibzeit fällt in die Hochblüte des Anstaltswesens, das aber bereits von psychologisch motivierten, medial gestützten und konsumorientierten Praktiken der öffentlichen und privaten Kontrolle, Steuerung und Regulierung überlagert zu werden beginnt. Oder anders: Die Irrenanstalten waren damals der Ort, an dem sich die sozialen und politischen Verhältnisse und die (para)wissenschaftlichen, disziplinierenden Diskurse und Praktiken in maximaler Vielfalt versammelt fanden. Mit «Matto regiert» hat Glauser diese komprimierte Welt nicht einfach nur «beschrieben» oder «dargestellt», sondern ihr Funktionieren als Welt und in der Welt analytisch durchdrungen und zugleich poetisch pointiert.
Worum geht es? Wachtmeister Studer soll in der Irrenanstalt Randlingen das Verschwinden des Direktors und Kindermörders Pieterlen aufklären. Der stellvertretende Direktor Laduner, ein ehrgeiziger junger Psychiater, der mit neuen Behandlungsmethoden an der wissenschaftlichen Front (und: an seinen Patienten) experimentiert, bittet Studer, den er von früher kennt, um behördliche Deckung − wofür, das wird erst im Verlauf der Ermittlungen deutlich. Diese bringen die internen Kämpfe und Spannungen zwischen dem senilen Direktor und dem agilen Aspiranten, zwischen Gewerkschafts- und Sektengruppen innerhalb des Personals und zwischen dem ehrgeizigen Psychiater und dem zögerlichen Wachtmeister ans Licht. Die Konflikte sind mit den lokalen politischen Verhältnissen verbunden, indem etwa ein einflussreicher Oberst seinen alkoholsüchtigen Sohn verwahren zu lassen versucht. Über das Radio meldet sich mit Hitlers Stimme sogar noch die grosse Politik – und spitzt die Frage nach der Verfügungs-gewalt in der Anstalt zu.
Um diese Verfügungsgewalt über Leben und Tod geht es allenthalben, zunächst im zentralen Fall des Kindsmörders Pieterlen, der ein Neugeborenes umgebracht hat, weil er keine Zukunft für es sah. In suggestiver Weise erörtert der Psychiater dem Wachtmeister soziale Fragen und setzt ihm die Behandlungsmethoden auseinander, vor allem die neuen «somatischen Therapien», Reiz- und Narkosetherapien, mit denen man an «hoffnungslosen Fällen» experimentierte: Heftige Fiebererzeugung mittels Erregern aller Art oder wochenlange Schlafkuren mit massiven Chemiedosen sollen die kranke Psyche vom Körper her ausradieren, um sie dann wieder psychotherapeutisch neu aufzubauen. Dieses Programm ist beim «Demonstrationsobjekt» Pieterlen erfolgreich zur Anwendung gekommen. Studers weitere Ermittlungen lassen diesen individuellen Demonstrationsfall jedoch zunehmend als Deckfall für Massenexperimente bei einer Mortalitätsrate von fünf Prozent erscheinen.
Der reale Hintergrund: Seit den 1920er Jahren hatte eine neue Generation von Psychiatern begonnen, den bis dahin herrschenden Anstaltsbetrieb, der in Verwahrung und Pflege mittels Beruhigung (Bad, Zwangsjacke, Gurtenbett, Brom) und Beschäftigung bestand und als «therapeutischer Nihilismus» verspottet wurde, mit einem ganzheitlichen Konzept im Zeichen von Handeln und Heilen zu reformieren. Das zentrale Element bildeten eben jene «somatischen Therapien», zu denen neue Erkenntnisse über den Stoffwechsel und die Entwicklung neuer chemischer Stoffe ermutigten. Sie stehen am handgreiflichen Anfang der biochemischen Psychiatrie, mit der wir uns noch heute so unauffällig wie möglich am Funktionieren halten.
Unaufdringlich verwoben mit der Kriminalstory, entziffert der Roman in den wissenschaftlichen und administrativen Praktiken die biopolitische Signatur, die sich zu jener Zeit in der Irrenanstalt materialisierte. Mit der Figur von Matto, der mit seinen «grünen gläsernen Nägel[n] an seinen Fingern» «bunte Fäden […] weit hinaus ins Land über die Dörfer und die Städte und die Häuser» zieht und niemanden «seine[r] Kraft und seine[r] Herrlichkeit» entgehen lässt, gestaltet Glauser eine Allegorie, die den modernen Anstaltswahn sichtbar macht und zugleich an die alte mythische Wahrheit des Wahnsinns erinnert.
Nach dem Erfolg von «Matto regiert» ringt Glauser bald wieder mit der Existenz und möchte beweisen, dass «ich auch ohne Irrenhaus etwas zuwege bringe», wie er im Oktober 1936 schreibt. Tatsächlich sind ihm dazu nur noch gute zwei Jahre vergönnt. Liest man heute «Matto regiert» vor dem Hintergrund seiner Anstaltskarriere, so setzt man voraus, dass das Buch Glauser deshalb so grossartig gelungen ist, weil er die Anstalt so nahe, so lang und so oft erlebt hat. Eigentlich aber sollte man sich über die Kraft zur Distanz wundern, die Glauser schreibend gewann, um in der existenziellen Bedrängnis überhaupt sein Erleben als vielschichtige und vielstimmige Erfahrungen zu formulieren.
1 Unterform der Schizophrenie.
2 Solch tendenziöser Glorifizierung hatte Glauser vorzubeugen versucht, als wegen eines anderen Porträts um Daten gebeten wurde: «Daten wollen Sie? Also: 1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Grossvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, drei Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann 3 Jahre Collège de Genève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen, weil ich einen literarischen Artikel über einen Gedichtband eines Lehrers am dortigen Collège verfasst hatte. Kantonale Matur in Zürich. 1 Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf. Rest können Sie im ‹Morphium› nachlesen. Ein Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. 1 Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. 3 Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921–1923 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. 1 Jahr administrativ Witzwil. Nachher 1 Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (1 Jahr), während der ich in Münsingen weiter als Handlanger in einer Baumschule gearbeitet habe. Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29), 30/31 Jahreskurs Gartenbauschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines -Vaters nach Mannheim. Dort wegen falschen Rezepten arretiert. Rücktransport in die Schweiz. Vom Mai 32 – Mai 36 interniert. Et puis voilà. Ce n’est pas très beau, mais on fait ce qu’on peut.»
Literatur:
Friedrich Glausers Romane (6 Bände) und Erzählungen (4 Bände) sind im Limmat-Verlag (Zürich), in Lizenz im Unionsverlag (Zürich), die Briefe im Arche-Verlag (Zürich/Hamburg) erschienen.
Martina Wernli: Schreiben am Rand. Die «Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau» und ihre Narrative (1895–1936). Bielefeld: transcript, 2014.
Zu Glauser: S. 326–379.