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Kranker Geist trifft heile Welt

Die Schweiz als «Sanatorium Europas»

Kranker Geist trifft heile Welt

Manchmal entstehen aus Versehen die schönsten Dinge. Thomas Manns «Zauberberg» etwa ist einer Fehldiagnose zu verdanken: Laut Röntgenbilduntersuchungen aus den 1960er Jahren zeigte die Lunge seiner 1912 in Davos kurierten Frau keine pathologischen Auffälligkeiten – aus medizinischer Sicht wäre Katia Manns Aufenthalt in der Höhenklinik also genauso unnötig gewesen wie der Besuch, den Thomas der vermeintlich Kranken abstattete. Aus literarischer Sicht freilich wäre die Welt um ein Meisterstück ärmer, wenn die Ärzte die Dinge richtiggestellt, auf die Patientin verzichtet und den Autor um die Einblicke in die Seele ihres rentablen Sanatoriums gebracht hätten.

Krankheit, Gesundheit, Literatur – um diese Themen kreisen die folgenden Seiten mit Beiträgen, die sich auf den Schnittstellen von scheinbar Widersprüchlichem bewegen: In sechs Artikeln gehen wir Autoren, Geschichten und Figuren nach, die die Schweiz als Anstalt beschrieben, in ihr der verrückten Welt entflohen, wahnsinnig (gemacht) wurden oder Heilung suchten.

Das Dickicht, als das sich das Thema präsentiert, ist historisch gewachsen. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert kultivierte die Schweiz ihr Image als wortwörtlich «heile Welt»: Mit den Lungenkliniken zur Pflege von Tuberkulosekranken, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in allen möglichen Höhenlagen entstanden, entwickelte sich das Alpenland zum «Sanatorium Europas» und galt mit seiner anrührenden Landschaft, seiner frischen Bergluft und seinem klaren Wasser bald als Insel – wenn nicht der Glückseligkeit, so doch zumindest der Gesundheit. Zu diesem heilsbringenden Hort pilgerte sodann um die Jahrhundertwende ein namentlich bürgerliches Publikum, das die Verwerfungen von Industrialisierung und Urbanisierung aus sicherer Distanz erschreckt beobachtete und ihnen mit jener dezidiert gesunden Lebensführung entgegentrat, die es in naturnahen Schweizer Wellnesseinrichtungen einübte.

Gerade den kritisierten Entwicklungen der Moderne ist dabei zu verdanken, dass sich die schöne Schweizer Landschaft überhaupt zur Heilerin aufschwingen konnte. Bevor sie im Zuge der zunehmenden Urbanisierung romantisch verklärt wurde, war die hiesige Natur nämlich jahrhundertelang als Gefahr für Leib und Seele erachtet worden: In den Bergen, so hiess es, würden einem die Adern platzen, die zwischen den Felsen gestaute Luft
sei jedem Fremden unerträglich und die Bewohner der Täler trügen mit Kröpfen, Kretinismus und Stumpfsinn die wüstesten Zeugnisse der natürlichen Lebensfeindlichkeit. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hielt Arthur Schopenhauer beim Besuch der Schweiz in seinem Tagebuch fest, dass man nur hier «Crétins» fände, die «stumm, u. blödsinnig» seien, dazu aber «auf ihrem Gesicht den Ausdruck einer wilden triumphirenden Fröhlichkeit» hätten. Insofern erstaunt es nicht, dass sich die Schweiz im weiteren Verlauf des Jahrhunderts speziell auch im Umgang mit psychisch Kranken hervortat und einige ihrer Ärzte Anfang des 20. Jahrhunderts zu Pionieren der Psychiatrie avancierten. Nebst öffentlichen «Irrenanstalten» entstanden dabei vermehrt auch Privatkliniken, die dank des herausragenden Rufes der helvetischen Medizinkunst eine zahlungskräftige Klientel aus ganz Europa in generös ausstaffierte Villenanlagen lockten.

Ob es aber um Lifestyle, Krankheit oder Genesung ging: die Literatur war immer mit dabei. Für diese Ausgabe haben wir uns deshalb auf der ganzen Breite des Feldes umgeschaut und die heile wie die kranke Schweiz auf den Spuren von Literaten bereist. Wir sind den Eindrücken von F. Scott Fitzgerald im «antiseptic smelling land» nachgegangen, haben die Berner «Waldau» aus Glausers und Walsers Augen betrachtet, sind mit Thomas Mann nach Davos gefahren, mit Hermann Hesse vom Monte Verità geflohen und haben mit Rose-Marie Pagnard eine zeitgenössische Autorin gebeten, uns von der Schöpfung der vielen «wahnsinnigen» Figuren zu berichten, die ihre Bücher bevölkern. Nicht immer, so zeigt sich bei ihr, entstehen die schönsten Dinge aus Versehen. (CM)

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Hôpital de Prangins, Haute-Rive, photographiert von Claudia Mäder.
An den Gestaden des Genfersees

Nach Prangins kommen heute bestenfalls ein paar Kulturtouristen, um das Nationalmuseum zu besuchen. Einst aber gaben sich hier internationale Literaturberühmtheiten die Klinke in die Hand – um sich oder ihre Liebsten in Dr. Forels Privatklinik behandeln zu lassen. Ein Ausflug ins Waadtland und ins Leben dreier Frauen.

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