Unsichtbar
Ein Auszug aus L’invisible (Der Unsichtbare), erschienen bei Buchet-Castel, Paris 2009.
Das Lächeln des Monds strahlt jetzt noch heller, in der Ferne schwillt das Bellen der Hunde an. Das Stadtzentrum liegt wie ausgestorben. Plastiktüten, in den Stromleitungen verfangen, flattern wie kleine Gespenster. Der Wind hat den Steinen die letzten Fetzen Hitze entrissen, zwischen bröckeligen Mauern und vergitterten Schaufenstern übersäen Reste von Betriebsamkeit die Strassen. Eine zerbeulte Dose rollt scheppernd durch die Stille. An einer Strassenecke der Umriss eines abgemagerten Hundes, er hebt den Kopf. Zwei kalte Punkte, die unbeweglich funkeln. Neben ihm taucht ein zweiter Umriss auf, dann noch einer. Ein Knurren geht von Schnauze zu Schnauze, sie setzen sich in Bewegung, von ihren untrüglichen Spürnasen geleitet, ein kurzes Bellen, dann bellen noch mehr, die ganze Meute stürmt voran, ihre Krallen wetzen über den Boden, heiseres Kläffen, hitziges Hecheln, eine wilde Jagd, entlang der Mauern, von Tür zu Tür, bis eine endlich nachgibt, sie knarrt und kracht, und hinter der Tür ringt etwas japsend nach Luft, mit pochendem Herz.
Der Flur führt zu einer beleuchteten Treppe. Von oben dringen Gelächter, gedämpftes Wummern. Hinter der Flügeltür am Ende der Stufen schlägt einem über dröhnende Musik hinweg das Lärmen der Gäste entgegen. Es herrscht Gedränge im Schummerlicht, gierige Hände greifen nach Bier und Cocktails auf dem Tresen.
Ganz hinten ist es etwas ruhiger und weniger eng. Ein Typ mit langen Haaren sitzt allein an seinem Tisch, er trägt ein Militärbéret, sein trüber Blick ist in ein Glas versunken. Jemand schlägt ihm auf die Schulter, Freunde, die sich nicht setzen, nur ein paar Worte wechseln und wieder abziehen, als sie jemand anderes sehen, ein Mädchen, das sie noch näher kennenlernen wollen. Frauen gibt es viele hier, sie trinken, sie lachen, sie wiegen sich zu den Klängen der immer lauter werdenden Musik. Aber das interessiert den Typen nicht. Er bleibt unbeweglich sitzen, fast schon hieratisch, ungerührt, auf seine Ellenbogen gestützt, nur sein Blick schwankt wie ein sinkendes Schiff, rot und ausgedörrt vom Alkohol. Ganz behutsam, fast schon zärtlich stellt der Typ sein leeres Glas ab, dann erhebt er sich und torkelt zwischen den Leuten hindurch, stützt sich ein wenig an ihren Körpern ab, wie um sich vorzutasten. Es ist nicht leicht, sich ein Getränk vom Tresen zu holen, denn alle kennen ihn, tausend Ungelegenheiten fassen ihn am Arm, schlagen ihm auf den Rücken, und dann muss er den Blick des Barmanns erwischen, warten, bis die Gläser voll sind – er hat gleich zwei bestellt, um Wege zu vermeiden, irgendetwas Milchiges, er schnappt sich die Gläser und kämpft sich wie ein Tänzer auf einem schwankenden Seil zu seinem Platz zurück.
Vorsichtig setzt er sich wieder hin, er schwenkt das Glas in seiner Hand, steckt sich eine Zigarette an, stösst eine Wolke aus, die zu dem Schleier aus Rauch an der Decke aufsteigt. Sein Getränk riecht nach Anis, etwas wie Pastis, nur weisser. What is your name? Er spricht mit seinem Glas, der arme Kerl, er neigt es in seine Richtung und fragt noch einmal: What is your name? «Are you a djinn?», fragt er sein Glas, dann dreht er sich zu mir und sieht mir direkt in die Augen, «no, you’re not a djinn, you don’t even know what a djinn is, do you?» Er hat seinen Blick abgewendet, es war nur ein Trugbild, aber er lächelt, als er einen ersten Schluck nimmt, einen brennenden, köstlichen Schluck, der Typ feixt, stösst ein rauchiges Lachen hervor. Und dreht sich wieder zu mir. Er erklärt mir, was ein Dschinn ist. Die Dschinn sind unsichtbare Wesen, von Gott geschaffen, Zwillinge der Menschen. Sie sind Parallelgeschöpfe, er legt seine Hände einander gegenüber auf den Tisch, parallel, er spricht langsam, wirft mir kurze Blicke zu, wie um sicherzugehen, dass ich auch wirklich verstanden habe. Die Dschinn sind wie die Menschen, sie sind weder gut noch böse. Es gibt auch Frauen. Dschinn können gefährlich werden, wenn man ihnen keinen Respekt zollt. Sie sind mächtige Wesen, denn sie wurden aus dem Feuer erschaffen. Aber sie lieben trotzdem das Wasser. Er nimmt noch einen Schluck von dem beissenden Anisschnaps und schliesst die Augen. Auch ich will einen Schluck nehmen, die Flüssigkeit ist kühl, ich trinke mein Glas in einem Zug aus. «Man trifft mehr von ihnen an der Küste», sagt er. An den Ufern der Seen, an Quellen. Warte.
Er erhebt sich, und diesmal kommt er mit einer ganzen Flasche und einer Karaffe Wasser zurück. Bevor er einschenkt, hält er eine ganze Weile inne, stützt sich auf dem Tisch ab, wie um sich zu konzentrieren oder um nicht zu fallen. Und dann löst er den Korken, er giesst die Gläser halbvoll mit einer klaren Flüssigkeit, gibt das Eiswasser dazu, und die Flüssigkeit wird trübe, in einer Wolke, die schliesslich alles einhüllt. Er trinkt auf meine Gesundheit, das Klirren unserer Gläser wird von der dröhnenden Musik erstickt. Dieser Mann hat mich gesehen. Der Rauch brennt in meinen Augen, und auch in seinen, aber er steckt sich trotzdem noch eine Zigarette an und geht zur nächsten Geschichte über, ich kann ihm nicht immer ganz folgen, manchmal verfällt er auch in seine Sprache – jemand will sich auf meinen Platz setzen, was er rigoros verhindert, er murmelt etwas, der andere versteht nicht. Die Dschinn, andere unsichtbare Menschen … Überall, unzählbar, verborgen, Parallelgeschöpfe, von Gott geschaffen, oder auch eine Legion im selbstgewählten Exil, andere Unsichtbare, die sehen könnten, was ich sehe, was nicht viel anders ist, als mich zu sehen, also will ich ihn fragen, ob diese Wesen denn einander sehen können, aber er kann mit meiner Frage nichts anfangen oder er tut so, als würde er mich nicht verstehen, wer weiss, die Musik ist ohrenbetäubend, und die Leute tanzen, vor allem die Frauen, und sie tanzen so schön; er erhebt sich, und ich will ihm folgen, aber er wird vom Gedränge verschluckt, tanzende Körper, ich werfe mich zwischen die tanzenden Körper, und von überall kommen die Stösse, Stösse von Armen, Stösse von Ellenbogen, Stösse wie Küsse, ich berühre all diese Körper, es schlägt auf mich ein, das elektronische Wummern, Arme, immer weiter, Brüste pressen sich gegen meinen Körper, ich bin nackt im Gedränge, sie, ihre grossen schwarzen Augen, ich, ein Stück durchsichtiges Fleisch, zerdrückt vom Gedränge, von der Liebe und der Musik.
Zu Janovjaks ausgezeichnetem Werk «Le Zoo de Rome» (Actes Sud, 2019):
Wofür geht man in den Zoo? Natürlich, um Tiere anzusehen: fremde, wilde, stolze Tiere. Doch manchmal schauen die Tiere zurück – und wer sagt uns, dass sie sich nicht denken: «Ah schau, die nackten Affen mit Sneakers und Glace sind wieder da»? Pascal Janovjaks «Le Zoo de Rome» demaskiert den Menschen letztlich durch die Augen eines eingesperrten Tieres. Auch er ist ein Schicksalswesen, das sich den Umständen ergibt – ohne deren Vorhandensein überhaupt zu bemerken. Der Roman spielt in einem überdimensionierten Zoo in Rom, der noch aus einer Zeit stammt, als die Leute von exotischen Tieren nicht genug bekommen konnten. Giovanna, die Kommunikationschefin des Zoos, und Chahine, ein algerischer Architekt, haben beide ein Faible für den «Grossen Ameisenbären» (den letzten seiner Art) und ansonsten ein zärtliches Ding am Laufen. Der Zoo ist hier eine Allegorie auf das Leben und das heutige Italien, das weder ökonomisch noch historisch in die Grandezza von damals passt. Das alte Rom und der grosse Bär, beide stehen vor dem Schicksal, ein Ausstellungsstück zu werden. Pascal Janovjak ist es gelungen, tiefe Gedanken über die menschliche Natur in kurzweiligen Anekdoten und Aperçus zu verstecken, leichtfüssig und raffiniert. Der Elefant im Raum ist – der Mensch. (Milosz Matuschek)
Ein Zitat aus dem Werk:
«C’était une opinion toute personnelle, elle n’y connaissait rien, mais le problèmelui paraissait insoluble: après tout, dans un zoo, les pauvres bêtes ne se choisissaient pas. Moro sourit. C’était un peu plus compliqué, dit-il en essuyant ses lunettes, et «choisir» n’était pas le bon terme pour des animaux en chaleur (…). En réalité, la probabilité d’un accouplement entre deux individus lambda est infiniment plus haute lors qu’ils se trouvent prisonniers d’un enclos. C’est l’avantage des milieux artificiels…»