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Pierre Chiquet:   «Am Bahndamm»

Pierre Chiquet:
«Am Bahndamm»

Verfehltes Leben: Chiquet experimentiert mit Identitäten und Lebensentwürfen und schreibt ein kluges Buch.

Pierre Chiquets sechster Roman «Am Bahndamm» ist, wie der Werbetext des Verlags prononciert, in der Tat ein «geheimnisvoller, überraschender Roman»: ein Buch über zwei gegensätzliche und doch schicksalsverbundene Protagonisten, ein Buch über die Suche nach der Identität und nach den Möglichkeiten verschiedener Existenzen, ein Buch aber auch über das Schreiben. Dabei experimentiert Chiquet, den Leser herausfordernd, mit der erzählerischen Struktur, indem er in zwei Romanteilen mit Prolog und Epilog die zeitlichen Ebenen und Erzählperspektiven wiederholt wechselt, um den subjektiven Blick des Ich-Protagonisten Paul objektivierend zu hinterfragen und zu korrigieren. Der Roman beginnt, im Prolog, mit dem Schlüsselerlebnis des elfjährigen Ich-Erzählers, der am Bahndamm den eigentlich stärkeren, «fremdartigen» Mitschüler Jossi in einem Kampf besiegt. Dieses Erlebnis grundiert seine Erinnerungen, die ihn, als Mann mittleren Alters, in einem Krankenhaus befallen. Der Ich-Erzähler – und damit setzt die eigentliche Fabel des ersten Romanteils ein – ist von Unbekannten niedergeschlagen worden und findet sich, unfähig zu sprechen und zu gehen, in einem Krankenbett wieder.

Der im Jahr 1980 spielende zweite Romanteil führt in die Zeit der Jugendrevolten, in die «Gartenstadt», den Ort alternativen Lebens, wo nun drei der ehemaligen Mitbewohner von Jossi und Paul aus der Ich-Perspektive über die Lebensträume der jungen Aufrührer, der «wilden Poeten ohne Werk», erzählen und insbesondere das ungleiche Paar Jossi und Paul porträtieren. Der introvertierte, verstummte, sich erinnernde und in ein «Marmorbuch» fiktive Geschichten schreibende Ich-Erzähler des ersten Teils erscheint nun in einem dunkleren Licht; er wird als «Schwätzer» und «Angeber» beschrieben, als scheiternder Schriftsteller und Liebhaber, der «sich aus allem raushält» und immer nur «zusieht». Jossi wird dagegen mit einigen aufsehenerregenden Kunstaktionen und seinen organisatorischen Fähigkeiten bewundert, bleibt den Mitstreitern aber rätselhaft und fremd.

Am Ende des Romans, im Epilog, inszeniert Chiquet nach dreissig Jahren eine – allerdings fiktive – Wiederbegegnung der beiden sich abstossenden und anziehenden Protagonisten, bei der Jossi dem Ich-Erzähler schonungslos dessen verfehltes Leben vor Augen hält, das bereits mit der Illusion des Sieges damals im Kampf am Bahndamm begann: «In Wahrheit», so bekennt Paul, «hatte ich verloren. Ich verlor mein Leben, ein mögliches jedenfalls, ich bekam ein anderes dafür.» Und so erzählt Chiquet zum Schluss die «wahre» Geschichte des Kampfes der Knaben, in dem Paul unterliegt.

Pierre Chiquets ambitionierte Erzählintention, an den beiden konträren Protagonisten scheiternde Lebensillusionen zu demonstrieren und Jossis Erkenntnis «Ich wollte nie der sein, der ich war, sondern immer der, der ich hätte sein können» zu exemplifizieren, gestaltet sich in einem Roman, der den Leser irritiert und vieles im Vagen, Unklaren lässt. In der Gestaltung des Grundthemas, der Identitätssuche und der verirrten, illusionären Existenz, sowie in der (metafiktionalen) Aufklärung am Ende, dass der Roman die kathartische Geschichte des Ich-Protagonisten Paul erzählt, die dieser selbst schreibt, hat Chiquet aber zweifellos ein kluges und lesenswertes Buch vorgelegt.

Pierre Chiquet: Am Bahndamm. Zürich: bilgerverlag, 2018.

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