Ruth Schweikert:
«Wie wir älter werden»
Ruth Schweikert macht in ihrem neuen Roman deshalb keine Auslegeordnung der Gefühle – obwohl sich eigentlich alles um grosse Empfindungen dreht: Liebe, Verrat, Tod und Schuld –, vielmehr lässt sie aus Begegnungen, die sich über Zeiten und Räume ziehen, ein Gefüge entstehen, ein Netz aus undurchsichtigen Fäden. Es gibt keinen Hauptschauplatz, schnell wechseln Zeiten und Geschichten, wir verfolgen ein Kommen und Gehen von Neben- und Hauptfiguren. «Wie wir älter werden» ist kein Roman, der sich mal eben lesen lässt, mit halber Aufmerksamkeit schon gar nicht. Denn Ruth Schweikert hat eine raffinierte Technik entwickelt, zwei Familien zu durchleuchten, ohne aber ins Innerste eines jeden vordringen zu müssen. Psychologisches Figurentheater überlässt sie anderen, stattdessen richtet sie den Scheinwerfer stets nur kurz auf einzelne Familienmitglieder und Konstellationen, die Schnitte sind schnell gesetzt – die Inszenierung wirkt dennoch nicht zerhackt oder gar willkürlich. Trotzdem bleiben einige Zusammenhänge unklar, die wechselnde Erzählperspektive ist, was den Überblick der Komposition angeht, nicht hilfreich.
Kathrin immerhin bemüht sich um neue Ordnung, sie versucht, Rechenschaft abzulegen. Und schreibt deshalb ein Theaterstück über Machtstrukturen, bei dessen Verfertigung wir auf die Schlüsselstelle des Buches stossen: «Sie hatte eine Weile gebraucht, bis sie dem Unbehagen auf die Spur kam, das sie beim Schreiben am meisten umtrieb; der Zufall, das Zufällige, das jedem Text innewohnte, selbst wenn das Material vorgegeben war; und dass sie beim Überarbeiten nichts anderes tat, als eben den Eindruck des Zufälligen zu verwischen, bis der fertige Text so selbstverständlich dastand, als wäre er nur genau so denkbar, als hätte er von Anfang an nur so und nicht anders geschrieben werden können.» Genau das ist Ruth Schweikerts literarisches Konzept in «Wie wir älter werden»: den Eindruck des Zufälligen verwischen, bis ein selbstverständlicher Text dasteht, der nur so und nicht anders denkbar ist. Als anspruchsvolles, gelungenes Abbild einer Paradoxie: der Darstellung von Lücken in Biographien – und der Sprachlosigkeit innerhalb von Familien.
Ruth Schweikert: Wie wir älter werden. Frankfurt: S. Fischer, 2015.