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Sehen lernen

Der Tessiner Schriftsteller Matteo Terzaghi

Der Literaturbetrieb ist ein Zoo. Manchmal sitzt eine Beutelratte in einem stattlichen Raubtierkäfig, und man kratzt sich am Kopf. Stellt sie sich in dem prominenten Käfig den Publikumserwartungen? Umgekehrt kann sich eine Kreatur mit prächtigem Fell und geschmeidigen Bewegungen in einem halbdunkeln, kleinen Gehege finden. Und zu dieser Spezies gehört der aus dem Tessin stammende Schriftsteller Matteo Terzaghi – und ebenso die in seinem neusten Band versammelten Prosatexte!

Als Leserin im «Amt für Lichtbildprojektion» (die Brotsuppe, 2015) spüre ich sofort, dass Terzaghi ein besonderes Sinnesorgan hat: ein Sensorium für das in den Dingen verborgene Licht. Und seine Sprache hat eine Leuchtkraft ganz eigener Art, die einem spielerisch das Sehen und Empfinden neu beibringt: es ist eine Art inneres Sehen, um das es hier geht. Der Autor empfindet deshalb nicht umsonst Mitleid für «augenlose Tiere, Bäume und Steine». Im Zentrum der Texte, deren Titel oft aphoristische Qualität haben, steht allerdings meist eine Photographie – und etwas allgemeiner formuliert: ein Bild und die Fragen, die es in uns hinein- und in uns aufwirft. Das Bild fixiert Vorgänge in der physikalischen Welt. Friert sie ein. Und nur gewiefte Bildbeleber wie Terzaghi können dieses eingefrorene Leben auftauen, durch die behutsame sprachliche Annäherung, durch den wärmenden Blick, durch die Gewissheit einer tiefen, inneren Verbindung mit dem hier eingefangenen gelebten Leben. In jedem Kapitel des mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichneten Bandes nimmt uns Terzaghi ausserdem mit an reale Bücherorte, in Buchhandlungen und Antiquariate, aber er öffnet auch einen alten Lederkoffer, in dem seine Grosseltern ihre gesamten Photoschätze sammelten. Terzaghis Texte kolorieren die auf den Photos vergilbten Welten: Er macht den Gesichtern aus anderen Zeiten wieder rosige Wangen. Seine Methode? Die Bilder «einfach in Ruhe ansehen» – und in dieser unprätentiösen Empathie liegt das ganze Geheimnis der zum Leuchten gebrachten Bilder.

Der in Bellinzona geborene Matteo Terzaghi studierte Philosophie in Genf. In manchen der achtunddreissig Texte, die unter dem Originaltitel «Ufficio proiezioni luminose» (Quodlibet, 2014) erschienen, lässt er uns auch an Anekdoten aus der Akademie teilhaben. Eines der Prosastücke erzählt vom Professor, der partout keine Lizentiatsarbeit über Paul Valérys «Traktat über die Dinge, die man mit geschlossenen Augen sieht» lesen wollte. Der Student gibt sich einsichtig, doch schon diese scheinbare Gefügigkeit erinnert an Robert Walser’sche Ironie. Es überrascht nicht, dass der grosse Autor von «Prosastücklein» auch persönlich nicht selten durch diese Zeilen spaziert, direkt neben Valéry. Man begegnet überhaupt vielen von Terzaghis Künstlerkollegen: Clay Regazzoni (mit und ohne Schnurrbart), Hugo Ball in seinem obligaten Wortpriester-Kostüm, der «gegen den Bedeutungsverlust der Wörter» und «für die Verbundenheit aller Wesen» kämpft. Aber man begegnet auch malenden Schimpansen, der Gottesmutter und schliesslich dem ganzen atmenden Planeten Erde: «Eine kochend heisse Wolke. Den Atem der zwischen zwei Wutanfällen Eingeschlummerten.»

Terzaghi trifft den Ton – und auch sein Thema – mit virtuoser Sicherheit. Vielleicht ist er ein Naturtalent? Nein, sicher ist er das. Dass aber auch viel Arbeit und Liebe ins Detail einfloss, sowohl des italienischen Originals wie der kongenialen Übersetzung ins Deutsche durch Barbara Sauser, beweist die poetische Leichtigkeit der Texte. Von diesem Autor – nein, von diesem Autor-Übersetzerin-Tandem – haben wir nicht zum letzten Mal gelesen. Die fangen, obschon längst «alte Hasen» im Tessiner Betrieb, gerade erst an!


Hildegard Elisabeth Keller
ist Literaturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin, ausserdem wirkt sie als Performerin und Produzentin szenischer Lesungen mit Literatur und Musik. An der Indiana University Bloomington (USA) und an der Universität Zürich lehrt sie Deutsche Literatur, gehört zum Jurorenteam des Ingeborg-Bachmann-Preises, ist Schirmherrin des «Treibhauses» des «Literarischen Monats» und Teil des Kritikerteams beim SRF-«Literaturclub».

 

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