Bern – Zürich:
1 Stunde, 16 Minuten
Bücher schenken Unendlichkeit. Deswegen brauche ich sie auch auf kurzen Trips. Die mir bevorstehenden knapp 90 Minuten von Bern ins Liceo Artistico in Zürich werden so zur magischen Zeitreise. Zwei Bücher stecken in meiner Manteltasche. Ich weiss, darin sehe ich altmodisch aus. Wie ein Hippie, irgendwie: «Favorita», drei Kurzgeschichten von Heinz M. Strohbach, und «Faoug» von Gaia Grandin lugen aus meinem Outfit.
Das Mittelland ist grau unter einer eisernen Nebeldecke, «Favorita» ist blau, hat das Pendlerformat, denn es liest sich von Bern bis Olten und muss nicht in einzelne Teile geschnitten werden. Ja! Mir gegenüber sitzt eine Dame mit einem Teil eines Buches und sie erklärt mir, das ganze sei ihr zu schwer gewesen. «Etwas ist verborgen worden. Es ist weg. Ohne Übergang.»
«Faoug» von Gaia Grandin ist auch blau, dunkles, ozeanisches Blau. Französische Gedichte, mit denen sie den Prix de la vocation gewonnen hat. «le silence d’un oiseau / s’enfonce dans la couverture nuageuse / et disparaît à la verticale / absorbé par le même ciel.» Das Schweigen des Vogels, das in der Wolkendecke verschwindet, trennt die Dame mit abgeschnittenem Buch und mich, aber auch wir werden vom gleichen Himmel absorbiert. Wenn Bücher bluten könnten, denke ich.
Ihre schönen Hände mit den langen, zarten Fingern färben sich rot. Zeit, bei der Minibar einen Kaffee zu bestellen. Schwarz mit viel Zucker. Der fahrende Barmann heisst Mustafa. Er kann seinen Blick nicht vom Blau meines Buches abwenden. Stille eines Mannes: es scheint, er möchte in diesem Ozean verschwinden und nach Hause schwimmen. Mir kommt Wittgensteins Frage in den Sinn: «Kann ein Buch verschwinden?» Kann ein Mensch in einem Buch verschwinden und von dort aus heimschwimmen?
Ich schlürfe den Kaffee. Recht laut. Das geteilte Buch senkt sich, und ich blicke in grosse, dunkle Augen. «Jetzt möchte ich weiterlesen, aber ich habe den
anderen Teil nicht bei mir», sagt sie – und ich kann nicht wegschauen.