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Brambachantischer Gartenbau

Rainer Brambach war einer der bekanntesten Dichter der Schweiz – heute kennt ihn kaum noch jemand. Eine Spurensuche zum 100. Geburtstag.

Brambachantischer Gartenbau
Rainer Brambach in seiner Dachkammer in der St. Alban-Vorstadt, Basel, 28.6.1978, photographiert von Kurt Wyss.

Ein Jahrhundert ist vergangen seit der Geburt von Rainer Brambach. Der Basler Schriftsteller, einstmals Frontmann der Schweizer Lyrik, ist zum Geheimtipp regrediert, doch auch die wenigen, die ihn noch lesen, würden wohl sagen, er habe mehr Zukunft als Vergangenheit. Man hat seinen 100. Geburtstag abgewartet, um ihn endlich, Rückschau haltend, mit einer Monographie zu Leben und Werk zu ehren. Ob er damit erneut ins Bewusstsein gebracht und seinem Rang entsprechend aufgestellt werden kann, ist ungewiss, aber nicht ganz unwahrscheinlich angesichts der Wiederkehr des Natur- und Landschaftsgedichts in der zeitgenössischen deutschsprachigen Poesie.

«Ich wiege 80 Kilo, und das Leben ist mächtig.» Unter diesem schwergewichtigen Titel liegt nun die illustrierte Biografie des Schweizer Dichters vor, der 1917 als Sohn eines deutschstämmigen Vaters und einer Mutter vom Jurasüdfuss in Basel geboren wurde und ebendort, 1983, gestorben ist. Brambachs Wiederentdeckung müsste, um längerfristig zu überzeugen, auch als «Neuentdeckung» gelten können. Das Material, das Potenzial dafür ist durch sein Werk gegeben, dessen lebensphilosophische Tiefe noch weitgehend unerschlossen ist. Brambach ist mehr als ein Feld-, Wald- und Wiesenpoet, weit mehr als ein Kneipenliedermacher; er ist, wortkarg und wortstark zugleich, ein Dichter, der in alltäglichen Verrichtungen, in unauffälligen Gegenständen oder beiläufigen Gesten eine höhere, auch existenzielle Gesetzlichkeit zu erkennen vermag.

Isabel Koellreuter und Franziska Schürch haben einen gut dokumentierten Lebensbericht erarbeitet, der den Autor in zeitgeschichtlichem Kontext wie auch in literarhistorischer Perspektivierung verlässlich in Erinnerung bringt – ein schwieriges Unterfangen angesichts der Selbstgenügsamkeit und der weitgehenden Ereignislosigkeit dieses Dichterlebens. Wohl werden mehrere gescheiterte Ehen rapportiert, ein paar Lesereisen in der Schweiz und im Ausland, behördliche Querelen, finanzielle Probleme, doch all das gibt es auch im Leben eines Normalverbrauchers. Von Skandalen, Sensationen oder VIPs, mithin von dem, was Biografien erst eigentlich rezent macht, kann in Brambachs Fall nicht die Rede sein. Eher schon hat umgekehrt zu gelten, dass er – ein Genie der Freundschaft, ein (nach eigenem Bekunden) «brambachantischer» Lebenskünstler und Stadtnomade – alles tat, um spektakuläres Aufsehen und literarische Prominenz zu vermeiden.

Unter diesem Gesichtspunkt bietet die Biographie keine sonderlich spannende Lektüre. Die stetig wiederkehrenden Schauplätze – enge Wohnungen, Mansarden, Gastzimmer, Arbeitsbaracken, Kneipen – wirken ziemlich stereotyp: Statt Glamour wird hier Gemütlichkeit, bisweilen auch Ärmlichkeit zelebriert. Ein Gleiches gilt für die Freunde und Kollegen des Dichters, von denen heute kaum noch einer, und sei’s auch bloss dem Namen nach, präsent ist. Dass Autoren wie Tadeus Pfeifer, Frank Geerk und selbst Jürg Federspiel, die in den 1970er und 1980er Jahren die Basler Literaturszene prägten, zusammen mit Rainer Brambach erneut in Stellung gebracht werden, mag literaturgeschichtlich durchaus verdienstvoll sein, erbringt jedoch keine irgendwie bemerkenswerten neuen Fakten.

Auch Brambachs enge Kontakte mit Günter Eich und Hans Bender, seinen prominentesten deutschen Gewährsleuten, scheinen eher privat (und betrieblich) denn literarisch produktiv gewesen zu sein – es geht darin vorwiegend um die Vermittlung von Radio- oder Leseterminen, um Empfehlungen bei Verlagen oder Zeitschriften sowie um Neuigkeiten aus der Alltagswelt. Die im Buch abgedruckten Briefauszüge lassen jedenfalls kein durchgehendes und sich entwickelndes Interesse an Problemen der Poetik erkennen, die über Brambachs eigene Schreibarbeit und die seiner Dichterfreunde hinausweisen. Andererseits ist man erstaunt darüber, mit welcher Akribie der spätberufene Autor noch die marginalste Rezension, die x-te Lesung, das jüngste Honorar im Briefverkehr festhält und kommentiert.

Koellreuter und Schürch vergegenwärtigen in präzisen Schritten den gemächlichen Lebensgang Rainer Brambachs seit seiner Schul- und Lehrzeit in Basel bis zu seiner Ausweisung (als Sohn eines reichsdeutschen Staatsbürgers) aus der Schweiz 1938 und seiner illegalen Rückkehr im Mai 1939. Berichtet wird über seine kurzfristige Internierung in helvetischen «Vollzugsanstalten» und die wechselnden Anstellungen als Maler und Gärtner während des Weltkriegs. Erst in den frühen Nachkriegsjahren setzte zögerlich Brambachs Dichterleben ein – mit vereinzelten Publikationen in der schweizerischen und bundesdeutschen Presse sowie mit Lesungen; als seine erste selbständige Veröffentlichung erschien 1947 ein Privatdruck mit sieben Gedichten, den er selbst (als Mitarbeiter eines Basler Graphikateliers) in Kleinstauflage auf den Weg gebracht hat.

Als Brambach 1954 von Hans Bender in den Autorenkreis um die neu gegründete – und rasch reüssierende – Literaturzeitschrift «Akzente» aufgenommen wurde, gelang ihm der überraschende Durchbruch (Hugo-Jacobi-Preis, 1955), und er gewann den Respekt von Autoren wie Aichinger, Eich, Höllerer, die ihn in der Folge nachhaltig förderten. Noch bevor sein literarischer Erstling, der Lyrikband «Tagwerk» (1959), vorlag, wurde Brambach der Preis des Kulturverbands der deutschen Industrie verliehen; bereits 1961 folgte die Prosasammlung «Wahrnehmungen» – beide Werke fanden bei der Kritik hohe Anerkennung, und Brambach sah sich gleichsam über Nacht in der Rolle des führenden Schweizer Dichters deutscher Sprache.

Diese Rolle scheint ihn, ungeachtet des autoritativen Zuspruchs des Grosskritikers Werner Weber, eher belastet denn befreit zu haben. Bis 1968 gab es von ihm kaum noch Neues zu lesen – er schien seine schlichte Mansarden- und Kneipenexistenz der lautstarken Selbstinszenierung und der von ihm erwarteten Selbstbehauptung vorzuziehen. Erst mit seinem Wechsel zum Diogenes-Verlag und mit der Veröffentlichung von «Marco Polos Koffer», einer Sammlung von Gelegenheitsversen, die er im Dialog mit Jürg Federspiel verfasst hatte, kehrte er auf die literarische Szene zurück.

Doch seine einstige Position als wortführender Schweizer Lyriker mit internationaler Resonanz hat Brambach nie wieder erreicht, vielleicht auch gar nicht erreichen wollen. Er blieb eine regionale Grösse, galt in Basel als Stadtoriginal und wurde in dieser Rolle auch respektiert – seine gemeinsam mit Frank Geerk komponierten «Kneipenlieder» (1974) bestätigten dieses Image und erhöhten seine lokale Popularität. Zwar gewann er mit seinen eigenen Gedicht- und Geschichtenbüchern («Für sechs Tassen Kaffee», 1972; «Wirf eine Münze auf», 1977) noch einmal überregionales Interesse und Ansehen (Berner Kunstpreis 1977), blieb aber mit seiner nach wie vor gepflegten Alltagsthematik und der schlichten, dabei handwerklich perfekten dichterischen Form hinter der neu aufkommenden «konkreten» Poesie ebenso weit zurück wie hinter der politisch engagierten Programmliteratur jener Zeit.

Rainer Brambachs Gesamtwerk ist leicht in einem mittelgrossen Band unterzubringen. Das hat nicht allein damit zu tun, dass er den Grossteil seines Lebens mit professioneller Gärtnerei zugebracht hat, sondern auch damit, dass seine Dichtung insgesamt wie im Einzelnen von höchster Intensität geprägt ist, die denn auch in radikaler Formstrenge und Kürze ihren Ausdruck, mehr noch: ihren Sinn, gewinnt; wie zum Beispiel im Schlussgedicht zu «Ich fand keinen Namen dafür» (1969), seinem schmalsten, seinem dichtesten Lyrikbuch:

 

Alltag

Gehen, wohin ich muss
Einen jungen Baum pflanzen
Den Garten loben, auch wenn es lange regnet
Das Rad ölen
und die Bremse prüfen
Die Zeitung lesen, ohne den Wunsch auszuwandern
Freunde empfangen
Vergessen können
Rosen oder Hühner?
Gedichte schreiben
und nicht auf die Musik der Bassgeigen
am Himmel hören
der blau oder bewölkt ist.

In diesen kargen Versen skizziert Brambach keineswegs bloss ein privates Credo, er entwirft eine veritable, zeitlos gültige, mithin auch heute bedenkenswerte Lebensphilosophie, ohne dass er dafür auch nur einen einzigen philosophischen Begriff oder eine lehrhafte Intonation einbringt.

Brambachs Anliegen als diskreter Dichterphilosoph besteht gerade nicht darin, ein vorbestimmtes Denken und Handeln durchzusetzen, um die bestehende Welt zu verändern, wenn nicht gar zu retten; ihm genügt die poetische Festschreibung dessen, was hier und jetzt der Fall ist, ungeachtet von möglichen – wünschenswerten oder bedrohlichen – Alternativen. Aus dieser Prämisse liesse sich wohl eine Poetik entwickeln, die dem Werk Rainer Brambachs (und ihm selbst als Sprachkünstler) gerecht würde.

Brambachs Biografie muss mich – der Autor spricht nun als Zeitzeuge – aus zwei Gründen auch persönlich interessieren. Erstens halte ich ihn nach wie vor für einen starken Autor, der endlich adäquat wahrgenommen werden sollte; zweitens war ich selbst, zumindest am Rand, in seine Lebens- und Arbeitswelt involviert und habe dabei manche unmittelbar wirksamen Impulse für mein eigenes Schreiben gewonnen.

Um 1958/59 kam es zu einer ersten Begegnung in der Wohnung von Claire Brambach, der Frau des Dichters, an der Basler St. Alban-Vorstadt, und in der Folge trafen wir einander immer wieder, vorzugsweise zu ausgedehnten Spaziergängen in der Altstadt zwischen Rittergasse und Spalenberg, redeten über Poesie, über Lieblingslektüren, über alltägliches Scheitern und seltenes Gelingen beim Schreiben.

Bei einem Besuch an der St. Alban-Vorstadt, der für die Besprechung meiner Gedichte reserviert war, traf ich bei Brambach den Kunstpublizisten Jürg Spiller: Beide waren, so schien mir, schon ziemlich betrunken, sie tanzten miteinander, lachten, rauchten dabei. Dennoch forderte mich Brambach zum Vorlesen auf. Ich war vorab schon völlig von der Rolle, wusste nicht, wie und womit ich beginnen sollte, verschluckte mich beim Rezitieren und wurde nach zwei, drei Gedichten abrupt unterbrochen. Brambach kam grinsend auf mich zu, stiess mit der Faust gegen mein Brustbein und sagte nur: «Du liest viel zu viel! Du solltest nicht so viel lesen!» Ich empfand den Übergriff als einen unfreundlichen Akt, die Worte als Beleidigung – implizit war’s ja wohl so etwas wie ein Plagiatsvorwurf. Ich schrieb damals unter dem bestimmenden Einfluss von Loerke, Kaschnitz, Eich, Krolow, hatte gerade eben Hugo Friedrichs Bestseller (inzwischen ein Klassiker) über «Die Struktur der modernen Lyrik» gelesen und begann mich für die Poetik der europäischen Moderne zu interessieren.

Brambach, als meinem Mentor, konnte nicht entgangen sein, dass er selbst keineswegs zu den Vorbildern gehörte, an denen ich mich damals orientierte, und von daher kann ich seine harsche Reaktion auf meine Schreibversuche nun nachträglich auch verstehen, muss sie ehrlicherweise sogar gutheissen. Der erwähnte Besuch endete übrigens mit einem weiteren Misston: ich reichte dem Meister beim Abschied eine Kopie meiner Übersetzung der Gedichtfolge «Crusoe» von Saint-John Perse – er warf bloss einen Blick darauf und sagte: «Was soll das? Perse!? Versuch’s lieber erst einmal mit Maupassant!» Also noch eine Zurechtweisung. Zwar nahm ich den ironischen Rat ernst und übersetzte wenig später Guy de Maupassants Erzählung «Auf dem Wasser» sowie einen Teil der Wahnsinnsgeschichte «Der Horla» ins Deutsche. Danach bin ich nie wieder mit Brambach zusammengetroffen. Das letzte Dokument unsrer ungleichen Freundschaft ist der Prosaband «Wahrnehmungen» mit einer herzlichen Widmung von seiner Hand und dem Datum «6. 6. 61».


 

Gedicht aus: Rainer Brambach. Gesammelte Gedichte. © 2003 by Diogenes Verlag AG, Zürich.


 

Literaturhinweis: Isabel Koellreuter und Franziska Schürch: Rainer Brambach. Eine Biographie. Zürich: Diogenes, 2016.


 

Felix Philipp Ingold
ist Schriftsteller, Slawist und Kulturpublizist. Zu seinen jüngsten literarischen Veröffentlichungen gehören der Prosaband «Direkte Rede» (Passagen, 2016) und die Gedichtsammlung «Niemals keine Nachtmusik» (mit CD; Ritter, 2017). Er lebt in Romainmôtier.

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