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Und ich war nur ein Clown

aus den «Unglaublichen Geschichten»

Von den vielen Schicksalen, die mir als langjährigem Stollenkurgast in Badgastein begegnet sind, ist wohl die Begegnung mit Herrn Dr. Horst Stein aus Hamburg-Altona die eindrücklichste. Eines Abends im Tauernparkhof vor Diner präludierte ich wie immer ein wenig am Blüthner-Flügel, Erroll-Garner-Imitationen, Misty, da sprach mich in der Halle ein Blinder an. Bei einem Martini-Dry erzählte er mir die wichtigsten Stationen seiner Lebensgeschichte. Dr. Stein war im Kessel von Stalingrad als ­Pilot bereits beurlaubt, um seine Freundin in Giessen besuchen zu können und sich mit ihr trauen zu lassen, und nur weil er aus freien Stücken einen Ersatzeinsatz für ­einen ­gefallenen Kameraden flog, stürzte er ab und holte sich nebst unzähligen Knochen­brüchen jene Bleivergiftung, die später zum Verlust des Augenlichts führte.

Dies allein wäre ein Roman, doch schreiben kann ihn nur der Betroffene selbst. Nun, er besass dafür das absolute Gehör, er hatte festgestellt, dass ich – im Gegensatz zum Barpianisten Julius Olah aus der Hohen Tatra – «Misty» in Es-Dur spielte und die Septime mit einem B-moll-neun vorbereitet hatte. Seine «Frau» und den inzwischen geborenen Sohn Gert fand er auf dem Giessener Friedhof wieder, als er aus dem ­Lazarett in russischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. «Ich legte anstelle von Blumen», erzählte mir der Hamburger Arzt, «den goldenen Ring zum Denkstein, die Formel ‹bis dass der Tod euch scheide› war durch die Geschichte eingeholt worden.»

Wir sassen, wie gesagt, in den weichen Polstern unter dem Paradies-Gobelin und verfolgten – das heisst nur ich – das Défilée der drapierten Thermalscheuchen, die Schäferhündin Senta lag unter dem Glastisch. «Aber», so der Stollenpatient Stein, Asthma bronchiale, Station III, 41,5 Grad Celsius, Luftfeuchtigkeit, die relative, über 90%, «ich war zweimal in Stalingrad, und ich stürzte auch das zweite Mal ab, als Seiltänzer im russischen Staatscircus. Ich fiel durchs Netz auf den Manegen­boden, weil mir mein Intimfeind, der Clown ‹Suslu›, die Spannkabel angesägt hatte, aus Eifersucht darauf, dass ich als Blinder in der Luft komischer wirkte aIs seine ­Wasser-und-Box-Entrée im Sägemehl.» «Wissen Sie, Herr Professor» – Privatdozent, korrigierte ich – «es ist das Schlafwandlerprinzip». Man mache deshalb beim Vorschieben der Füsse auf dem Drahtseil keine Fehler, weil man den Abgrund nicht sehe und glaube, die Schnur liege am Boden. «Da dachte ich eine Sekunde an Stalingrad, und schon war es passiert.» Ja, Patienten arbeiten immer ohne Netz, und wenn sie vermeinen, im Spital eines um sich zu haben, kommt prompt der Ferialpraktikant und reisst die Infusionsschläuche aus dem Arm.

«Wie aber wurden Sie denn Doktor der Medizin», fragte ich den Stollenfahrer Stein, der die Mundwinkel verzog, weil Julius im Gershwin-Stück «The Man I Love» den C-7-as-Moll-Wechsel verschlafen hatte. «Ich machte das Blindenstudium in Hamburg, doch meine Dissertation über ein Spezialthema aus der Rehabilitations­forschung ist noch nicht angenommen, bitte die akademische Ehre nur, wem Ehre ­gebührt.» Einer also, der den Gasteiner Wasserfall nicht mehr sehen konnte, der sich mit Asthma bronchiale auf Station III abquälte, der zweimal nahezu sämtliche ­Knochen gebrochen hatte, hatte sich mit dem Problem befasst, was in einer verpfuschten Existenz noch erhaltenswert sei – und, notabene, nicht etwa mit Suizidologie oder Euthanasie. Ich liess meinen halb ausgetrunkenen Martini-Dry stehen und schämte mich meiner Gesundheit, schämte mich auch für den Gehörmörder aus der Hohen Tatra, dem es freilich nicht viel besser ging, denn von seiner Gepäckdiener­gage von 8000 Schilling musste er 60% in die Tschechoslowakei abführen, er konnte sich nicht einmal ein Päckchen Zigaretten leisten im Tag.

Dafür hing im Lift eine Tafel mit der Bitte, zum Diner seien lange Kleider und dunkle Anzüge erwünscht. Um Dr. Stein ein wenig aufzuheitern, gab ich ihm ein ­Beispiel für die Katastrophe, die ein vertauschter Buchstabe in einem Satz anrichten kann. Da stehe nämlich im hydraulisch betriebenen Scherengitteraufzug auch zu ­lesen: «Mietfernseher können an der Reception bezogen werden.» «Ersetzen Sie das erste e im ersten Wort durch ein t, und es heisst: Mittfernseher können an der ­Reception bezogen werden, nicht nur Glotzenpartner, sondern solche, die mitten in der Mattscheibe drin hocken.»

Kurz, die Dissertation war noch nicht angenommen, was aber, wenn der Doktortitel, der in Österreich von Habe-die-Ehre-Amtes wegen immer prophylaktisch mit dem Pluralis Majestatis Kaiser Franz Josephis verkuppelt wird, Tatsache würde, «summa cum laude» womöglich? «Nun», entgegnete der Inhaber des absoluten ­Gehörs, «ich werde in Altona eine Praxis eröffnen mit 61 Jahren, freilich, welcher Lahme kommt schon zu einem Blinden, doch ich bin glücklich, wenn ich – von Tag zu Tag – das Problem gelöst habe, dass Senta etwas zwischen die Zähne kriegt.»

Damit erhob sich der Asthma-bronchiale-Patient, um sich von seiner Hündin ans Ecktischchen Numero 37 führen zu lassen. «Wissen Sie, Herr Professor» – Privatdozent, korrigierte ich – «ich werde in meinem menschenleeren Sprechzimmer noch unter die Schriftsteller gehen und ein Buch schreiben mit dem Titel ‹Und ich war nur ein Clown›, denn sie ist zum Totlachen, diese schäbige Existenz.» Ich musste ihm in die Hand versprechen, zu vorgerückter Stunde «Round about Midnight» zu spielen, es-Moll, die Dominante chromatisch mit H 9 anmoderierend. Der Zwei-Stern-Tafelspitz im nur auf dem Faltprospekt existierenden Fünf-Stern-Tauernparkhof hätte mir ohnehin nicht geschmeckt, ich begnügte mich mit einer Gabel voll Kren und dachte lange nach über das, was ich soeben im unangemessenen Telegramm-Stil zu Papier gebracht habe.


Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um eine Erstveröffentlichung.

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Zirkus

Das Jahr wechselt die Hand. Wir greifen in ein leeres Jahrtausend hinaus Balancieren noch ein Weilchen auf seinem Rand, Küsschen da, Küsschen dort, die Kunst- reiter schwitzen und begreifen erst jetzt – wie H.B. uns lehrte – dass die Arena älter ist als die Welt.

Der Daseinsartist

Hermann Burger wäre am 10. Juli 2012 siebzig Jahre alt geworden. Er gehört zu den talentiertesten Schriftstellern der 1970er und 1980er Jahre, und doch hat man ihm zu Lebzeiten ­immer wieder vorgeworfen, sein Werk sei, in allen Frech- und Freiheiten, nicht gut genug, es sei etwas zu leicht, zu reisserisch. Erst post festum hat man […]

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