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Wahrscheinlich geht alles weiter

Wahrscheinlich geht alles weiter
Nora Gomringer, photographiert von Judith Kinitz.

Nach den Posaunen kommen die Reiter. Sie brechen die Siegel und los geht’s. Die Schritte sind apokalyptisch festgelegt, der Abgrund tut sich auf. Im späten Oktober, gerade richtig zu Allerheiligen und um dem legendären Headless Horseman von Washington Irving nur ja wieder Wind unter die Hufe beim Beuteritt durch Allzu-Sleepy-Hollow zu geben, hat Sandy sich über die «intelligente» Seite der USA hergemacht. Die Hollywood-Seite konnte diesmal nur staunen und sich gleich ein paar Filmrechte sichern. «Frankenstorm Sandy», zusammengebraut im Kessel der Hexen Macbeths und derer von Eastwick, gerührt aus Tropenwärme und Atlantikkälte, aus Winterwille und Sommerabschiedsschmerz, flutete, brauste, entwurzelte und, ja, beendete. Viel Lärm um nichts, glauben die Maya, nach denen sich eine Verlängerung sämtlicher Abonnements, die Einschulung der Kinder, jedwedes Leben abseits eines Carpe Diem samt Noctem gar nicht mehr lohnen würde, ja schon gar nicht der Kauf eines neuen Kalenders und gar die Übertragung bereits gefasster Termine. Wie kurzsichtig, wie lebenssüchtig. Schliesslich beendet sich am 21.12.2012 die Jahresrechnung der «Langen Zählung» der Maya. Mit dem Ende dieses Kalenders soll unsere Welt enden. Oder vielleicht nur die der Maya? Die mexikanische Welt? So mancher konservative Amerikaner wird wohl sagen, dass das kein grosser Verlust wäre, wenn nur Cancun als Ferienort erhalten bliebe und das Naturphänomen Salma Hayek. Liest man den Maya auf die Spur, dann gibt es tröstliches Wischiwaschi für den forschenden Leser.

Ja, die Welt geht unter – aber es ist die Welt, wie wir sie kennen (wie bekannt da das gleichlautende englische Trinklied ans Ohr scheppert…), aber das heisst nicht, dass es nicht weitergeht, auf höherer Bewusstseinsebene die Sanduhr noch mal umgedreht, die Eieruhr mit neuem Schwung aufgezogen wird. Es geht weiter, Freunde, sagen die Spezialisten! Nur unter welchen Vorzeichen? Obaromney, neue iPhone, ein entblättertes Griechenland, eine bisslose Olive genannt Spanien, beständig neue Atomkraftwerke in Japan, der verfilmte Hobbit, der neue, verrissene Richard-Ford-Roman «Kanada». Die Maya sollen zyklisch gedacht haben. Also sehe ich zum wiederholten Male Emmerichs «2012» und male mir aus, wie sich mein Leben am 22.12. erledigt haben wird. Aber noch wichtiger ist die Vision vom 20.12. Wie ich da noch mal alle Sorten Häagen-Dazs-Eis einkaufe, eine grosse Pizza esse, meinen Freund ausgiebig küsse, mich bedauere, weil ich bis dato so viel nicht gesehen, nicht gelesen und nicht verstanden habe, und meinen Eltern feierlich sage, dass ich gerne ihr Kind war.

Liebe Leserinnen, liebe Leser! Bleiben Sie am Leben, behalten Sie Ihre Abonnements, schicken Sie die Kinder zur Schule und zeigen Sie damit auch 2013: Bejahung, Hoffnung und Nächstenliebe. Ohne diese drei wäre es sowieso an der Zeit – für alle Kalender und Glaubenssysteme –, uns die rote Karte zu zeigen. In diesem Sinne: Alles Gute und viel Mut für das grosse, unbekannte und – nach Kästner – unabänderlich lebensgefährliche neue Jahr!

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