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Wir Bergler

Das Land, wie wir es kennen wollen: Mary Long, Muratti, Kaffee Luz und Barry der Bernhardiner. Die kurze Geschichte einer langen Geschichte.

1. Die Erfindung der Berge

Bevor die Berge erfunden waren, hiessen diese Unebenheiten Landschaft, sie hiessen Aussicht, sie hiessen da hinten, da drüben oder da oben. Dann kamen die Flachländer, die solche Erhebungen höchstens vom Horizont bei Gutwetterlagen her kannten. Sie sagten: Wir wollen da rauf. Sie fragten nach dem Aufstieg, bekamen den Vogel gezeigt, suchten darauf selbst nach Routen, Tritten und günstigen Felsvorsprüngen. Von oben riefen sie stolz ihre eigenen Namen, das Echo bastelte im Widerhall neue Wörter und diese wurden zu den Bezeichnungen dieser Spitzen, Firne, Stöcke. Und wenn man ab und an Getier sah auf dem Weg nach oben, hiess der Berg Gemsfairen. Und wenn besonders viele Flachländer beim Aufstieg scheiterten, hiess der Berg Tödi. Von einem Drama am Berg hätte man dabei unten nie gesprochen, denn wer den Tod sucht, soll nicht überrascht sein, wenn er ihn auch findet. Wirklich dramatisch hingegen ist, wenn einer in der Milchlache ausrutscht und sich das Genick bricht.

Schöne Zeiten müssen das gewesen sein, als die Berge noch archaisch anmuteten, als Engländer die Schweiz bevölkerten, weil sie gehört hatten, dass Barry die besten Drinks serviert. Eisgekühlt. Und als Seilschaften an der Eigernordwand Wildheuer antrafen, die stoisch mit ihren Holzschuhen Halt suchten und Enziane abmähten. Und die noch nicht gemerkt hatten, dass sich mit Tourismus oder Hundefutter ebenfalls Geld verdienen liess. Besseres.

 

2. Rückeroberung und Rückzug

Ja. So war sie, die Schweiz. Genau so. Aber Bergler waren wir damals noch nicht. Wir wurden es erst, als man sich fragte, wer wir denn sein könnten, und als man als Antwort beschloss, den Engländern die Berge endgültig wegzunehmen und stattdessen Alphörner in die Magerwiesen zu stellen. Man erfand neue Melodien für sie, und wer sich an der Schweiz abarbeitet, arbeitet sich heute noch an diesen Tönen ab.

Und gerne würde man nun erzählen, dass man, während oben am neuen Selbstbild gemalt wurde, unten die Berge aushöhlte. Aber in grossen Teilen stimmt das leider nicht. Man beschloss ja bloss, dass man sich notfalls in die Berge zurückziehen können sollte und nicht in die Berge. Das ist schade, ersteres wäre die schönere Geschichte. Und schade ist auch, dass das Reduit unterdessen die abgehangenste Metapher ist, die dieses Land zu bieten hat, denn sie sagt schon lange nichts mehr über unser Land, wie es heute ist.

Ja, als sich Hermann Burger damals in den Bauch seiner künstlichen Mutter begab, da war sein Reisebericht wahrscheinlich nicht bloss lustig, sondern auch politisch. Und als Christian Kracht Jahre später in seiner Schweiz-Dystopie eine ähnliche Reise antrat, war das dann schon lange kein Sichabarbeiten am Thema mehr – es war ein Sichabarbeiten am Klischee.

Man sucht in den Bergtälern keinen Rückzug vor der Welt. Man sucht bloss die Auszeit in der guten alten Zeit, die es hier noch zu geben scheint.

 

3. Das warme Gefühl

Es ist diese Zeit, in der der Krieg tatsächlich in unsere Berge kam. Die Nationalfeinde hatten italienische Namen, sie hiessen Tomba la Bomba und Marc Girardelli, auch wenn letzterer für Luxemburg startete. Italien, Luxemburg, die haben doch keine richtigen Berge da, nur wir haben die richtigen Berge, haben richtige Skifahrer, auch wenn Italien und Luxemburg ihr Bestes taten, es den unsrigen zu zeigen. Und man zeigte auf die Bildschirme, die Mary Long in der Hand oder die Muratti. Und die andere hielt einen Kaffee Luz.

Ja, das ist die Zeit, an die wir uns erinnern, da fand die Schweiz tatsächlich in den Bergen statt. Und weil die Zeit meine Kindheit ist, denke ich an jeden Markennamen mit warmem Gefühl, denke: Mary Long. Schreibe: Muratti. Sehe: Kurvende Skifahrer. Denke: Kaffee Luz. Und natürlich rauchte niemand in unserer Familie, einen Fernseher hatten wir auch nicht und für den Kaffee Luz waren wir noch viel zu jung. Und wohl deshalb ist das alles so aufgeladen. Und so: Weisst du noch? Und wenn Freunde von ihren Bergwanderungen zurückkommen, dann erzählen sie, was sie da vorfanden beim Cordon bleu in der Bahnhofskneipe, dass man da noch rauchen durfte und was man da geraucht hat. Und sie sagen: Weisst du noch? Und ich sage: Ja, Mary Long.

Rauchen kann man das Kraut natürlich nicht. Und Kaffee Luz ist nur mit sehr, sehr viel Zucker geniessbar. Aber genau das macht den Reiz der Rückbesinnung aus. Dass man sich nicht mehr vorstellen kann, noch immer so zu leben. Und eigentlich: Man kann sich sowieso nicht vorstellen, wie man da so lebt: in den Bergen.

 

4. In den Bergen

Ich bin kein Bergler. Ich bin bloss da aufgewachsen. Auch heute noch gehören die Berge den Flachländern, auch heute noch definieren sie, was das sein soll: die Berge. Sie wandern und scheinen Weltabgelegenheit zu finden. Und Heimat im Berghütten-Kaffee-Luz. Und gute Zugsverbindungen vom Tal zurück nach Hause.

Ich weiss nicht genau, wovon sie erzählen, denn ich kenne die Berge nicht.

Ich bin aufgewachsen ganz hinten im Glarnerland. Wenn es den Arsch der Welt gibt, dann liegt mein Dorf tief hinten in der Spalte. Aber mit dem Zug ist man in eindreiviertel Stunden in Zürich.

Mein Lieblingsberg ist der Selbsanft. Das liegt in erster Linie an seinem Namen. Und in zweiter, weil er mir eine Kindheit lang in der Aussicht stand. Das heisst, nein: er war die Aussicht. Zusammen mit ein paar anderen Schattenspendern, deren Namen ich auch noch kenne. Sonst weiss ich nichts von den Bergen. Und das Matterhorn erkenne auch ich nur von vorne.

Wenn ich wissen wollte, wo Norden und wo Süden ist, reichte ein Blick zum Horizont, der im Glarnerland etwas weiter oben zu finden ist als anderswo. Der Blick reicht weit, auch wenn nicht allzu viel Himmel übrig bleibt vor lauter Fels, doch die Sicht ist weiter als im flachen Land, wo der Horizont immer bloss das nächstgrösste Gebäude ist. Und selbst an der Nordsee trifft man erst auf Deiche, bevor man die Weite findet.

Enge ist also ein Klischee. Ein anderes ist die Abgelegenheit. Wenn Leute sehen, wo ich aufgewachsen bin, dann wird Aussicht bewundert und gleichzeitig gestaunt, dass man da überhaupt herkommen kann. Dass man da gross werden, dann wegziehen und in meinem Fall Schauspieler werden kann. Schriftsteller kann man sich schon eher vorstellen, da passt Abgelegenheit ins Bild.

 

5. Wie es da ist

Aber wie ist es denn da, in den Bergen? Einmal kam das Fernsehen ins Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Ich war zu dem Zeitpunkt längst abgewandert, ins Unter- und zeitweise ins Ausland. Und darum kam das Fernsehen, denn ich war nicht der einzige, ja, im Fernsehbeitrag hiess es, in keiner Gemeinde der Schweiz gäbe es mehr Abgewanderte.

Das war lange vor der Erfindung des Dichtestresses, dessen Existenz das Dorf später deutlich bejahen sollte, obwohl hier vor der Massenabwanderung viele Ausländer gelebt hatten. Dar­über berichtete das Fernsehen natürlich noch nicht. Es stellte bloss Fragen: Wie war es vorher? Wie ist es jetzt? Und es zeigte Bilder: grüne Matten, Kühe auf grünen Matten, hohe Berge, die hinter grünen Matten aufragten.

Der Friseur, der uns Kindern damals den immer gleichen Kürzesthaarschnitt verpasst hatte, kam zu Wort. Es gebe nicht mehr allzu viele Haare zu schneiden, sagte er. Der süsse Nachbarsjunge von damals, der sich unterdessen zum Ex-Mister Schweiz gemausert hatte, sagte Kluges zum Optimismus, den man behalten, und zu neuen Ideen, die man entwickeln müsse. Dann sagte, glaub ich, noch ein Bauer etwas, aber an den Bauern lag es nicht, das grosse Abwandern. Die Bauern erhielten weiter ihre Subventionen für Kulturlandpflege. Und wie alle Kulturschaffenden lebten auch sie weiter wie immer: Mehr schlecht als recht von der Selbstausbeutung.

Ich freute mich beim Anschauen des Beitrags darüber, dass ich jederzeit genau wusste, wo sich der Kameramann aufgestellt hatte. Aber ich sah auch, in welche Richtung er nicht filmte. Das Fernsehen erzählte von einem Ort, an dem es kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt, es erzählte nicht, dass es sie einmal gab. Der hauptsächliche Grund der Abwanderung passte wohl einfach nicht ins Bild. Optisch meine ich.

Das Fernsehen zeigte ein abgelegenes Kaff, ein Landidyll, ein Bauerndorf. Und es zeigte nicht die unterdessen geschlossenen Textilfabriken, nicht die Kosthäuser, in denen die Arbeiter gewohnt hatten, nicht, dass hier die letzten hundert Jahre nie die Bauern bestimmend waren – sondern die Industrie. Vielleicht hatten Reporter und Kamerateam ja entsprechende Bilder mit ins Unterland genommen, spätestens im Schneideraum muss man sich dann aber entschieden haben, etwas anderes zu zeigen: das Land, wie wir es kennen. Wie wir es kennen wollen.

 

Wenn ich mich recht erinnere

Wenn ich mich nicht recht erinnere, dann sagt das natürlich etwas über mich aus und darüber, wie ich das Fernsehen und den Blick der Flachländer sehe. Aber wenn ich mich recht erinnere, dann sagte der Beitrag so einiges darüber, wie man das Dorf und wie man die Berge sehen will: gottverlassen, abgelegen, in den Achtzigern stehengeblieben. Aber mit dem Zug gut erreichbar.

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Emil Zopfi, photographiert von Marco Volken.
Gipfelpanorama

Die Schweizer Literatur ohne Berge? So undenkbar wie das Wallis ohne Matterhorn! Seit je hat das Gebirge zum Schreiben animiert, den Autoren als Gegenwelt gedient, sie auf Erkundungstouren gelockt und ihre Leidenschaft geweckt. Ein Panoramablick auf einige Gipfel, die aus 400 Jahren Bergliteratur herausragen.

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