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Das «Salatorium» von Ascona

Glauben Sie, dass die Qualität Ihrer Luft, Ihres Lichts und Ihrer Ernährung einmal besser war? Würden Sie zur Kur zeitweilig in eine unbeheizte Holzhütte ziehen und sich ausschliesslich mit Wasser und Gemüse verpflegen? Liessen Sie sich sogar freiwillig zu täglich mehrstündiger Gartenarbeit im Leinenleibchen verdonnern? Und würden Sie für diese Schikane auch noch horrende Summen zahlen?

Das «Salatorium» von Ascona
Das Eingangstor zum Sanatorium. Bild: Fondazione Monte Verità.

Grossen Teilen unserer gestressten Multioptionsgesellschaft kann man derartige Dienstleistungen verkaufen. Und diese Nachfrage ist so alt wie der Kapitalismus selbst: In der «Industrialisierung», «Rationalisierung» und «Vermassung» aller Lebensbereiche witterten kulturkritische Geister schon um 1900 den Niedergang unserer Spezies. Naturalistisch spirituelle Gegenkonzepte in Form sich selbst versorgender, vegetarischer Landkommunen ploppten damals deshalb aus dem Boden wie Pilze im Spätsommer. Und ein Epizentrum dieser Lebensreform lag am Lago Maggiore.

 

Entgiftung in Ascona um 1905

Erich Mühsam, bis dahin weniger Lebensreformer denn Arbeiterführer, Anarchist und Schriftsteller aus Berlin, traf im Frühjahr 1905 in Ascona ein. Er war auf der Suche nach Landluft und Südlicht jenseits des Industrialisierungsdunstes, nach Heilung «von wirklichen oder eingebildeten Krankheiten»1, kurz: nach einem anderen, lebenswerteren Leben – und kam in der vegetabilen «Naturheilanstalt Monte Verità» an. Hier sollte laut Werbebotschaft eine «ganzheitliche Kur» für Körper und Geist – genauer: Sonnen- und Lichtluftbäder, streng «vegetabile» Ernährung, das Tragen von «Reformkleidern» und die Gleichstellung der Geschlechter – dafür sorgen, dass Gäste von ihren Zivilisationsleiden befreit würden. So zumindest hatte es Mühsam bis in die «Lasterhöhlen» der Berliner «Tiergartenbourgeoisie» hinein vernommen. Und er war wahrhaftig nicht der einzige: Zwischen 1900 und 1920 lockte Ascona eine ganze Reihe strammer Lebensreformer, unter ihnen namhafte Schriftsteller, Philo- wie Theosophen und (Lebens-)Künstler aus den Grossstädten Europas, an. Viele von ihnen sollten direkt oder indirekt über ihre Zeit auf dem «Berg der Wahrheit» schreiben und berichten. Alle versuchten sie sich – zeitweilig oder dauerhaft – an der Metamorphose vom urbanen Bohémien zum ruralen Obstgärtner: kein Alkohol, kein Fleisch, kein Zucker, keine Gewürze – nicht einmal Tee und Kaffee. Ihr Ideal: die in einem Tessiner Gemüsegarten beginnende, nachhaltige Veränderung der Welt.

 

Mühsam: Im Reformhaus ist der Teufel los

Mühsam, der ebenfalls mit revolutionären Erwartungen im Tessin strandete, wird, wie viele andere, enttäuscht. Er zeichnet ein deprimierendes Bild der Kolonie: Was als antiautoritäre «vegetabile Cooperative» im Jahr 1900 begann, weicht schon wenige Jahre später einem kapitalistischen «Salatorium», einem profanen Ferienbetrieb, ausgerichtet auf bürgerliche Globalisierungsgegner mit dickem Portemonnaie. «Lächerliche Elemente», nennt Erich Mühsam diese Kunden. Und bald zeigt sich: Viele der sich kunsttümelnd und «mit ihrem bisschen Weltanschauung» als «Individualitäten» aufplusternden Weltverbesserer schlagen sich des Nachts im Nachbargrotto die gutgebräunten Bäuche mit Salametti (am Tag: «Leichenfrass») und Wein (am Tag: «Nervengift») voll. Die Gründer der Kolonie, Henri Oedenkoven, Ida Hofmann sowie die Gebrüder Karl und Gustav Arthur «Gusto» Gräser, seien, so Mühsam, zwar weiterhin ehrenhafte Menschen. Aber ideologisch zu sehr zerstritten: während erstere in vegetarischen Zeitschriften und auf Postkarten irgendwann nicht mehr nur Werbung für Rohkostkur und Sonnenbad, sondern auch für die neue «Centralheizung» und den Tennisplatz schalten, knackt letzterer – als eine Art kommunitaristischer Hardliner – längst seine Nüsse in einer nahen Höhle im Wald.

 

Hesse: Lieber Massan- als Entzug

1907 bekommt «Gusto» dort prominenten Besuch: Hermann Hesse steigt zum Alkoholentzug auf den Berg der Wahrheit. Nachdem er für einige Wochen «nackt und aufmerksam wie ein Hirsch»2 bei seinem «Guru» gelebt hat, kehrt er, wie so viele seiner Leidensgenossen, enttäuscht von der Erfahrung als «Naturmensch» in sein altes Leben zurück. Sein Alter Ego in «Der Weltverbesserer», einer kurz darauf entstandenen Kurzgeschichte, kauft sich zur Feier der Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft denn auch zuallererst einen anständigen Massanzug und bezeichnet die einstigen Gurus als «harmlose Irre» und «verschrobene Aussenseiter», deren Naturmensch-Utopie nur so lange tragfähig bleibt, bis sie den Selbstversorgerspaten in die eigenen Hände nehmen sollen. In «Doktor Knölges Ende» erscheinen ihre Institutionen dann sogar als «Narrenhäuser», ihre Konferenzen als «phantastische Komödien» – und ihre Vordenker als in der evolutionären Rückentwicklung begriffene Primaten. Mühsam und Hesse sind nur zwei Beispiele für die literarische Erstverwertung der Stoffe, die auf dem Monte Verità zu sammeln waren. Und obschon sie hier wenig eingeschönt daherkommen, legten sie den literarischen Grundstein für einen Mythos: «Pflanzer» beim Gärtnern, Nachdenken, Herumlümmeln oder Tanzen, das sind bis heute die Bilder, die sich von der vermeintlichen «Gegenwelt» des Monte Verità eingebrannt haben. Erste Folgen zeitigten literarische und photographische Verwertungen schon zu Zeiten des Sanatoriumsbetriebs: Bald brauchte es bessere Sichtschutzhecken, um die unverhüllten Leiber der Gäste vor den verstohlenen Blicken der Pauschaltouristen im Ort zu schützen. Wenig später sollte die Lust am «Naturnahen» und «Echten» auch bei ihnen geweckt werden: Die Küche auf dem Berg der Wahrheit bietet deshalb ab 1910 Gemischtkost an, man darf seine Zigarre rauchen und auch mit einem Gläschen Wein anstossen. Das Tragen des Reformkleids wird zur Folklore, die Preise liegen über, der Komfort aber weiterhin unter dem Durchschnitt. 1920 schliesst die Anstalt ihre Pforten, der Spagat zwischen Kommune und Betrieb, Anspruch und Wirklichkeit, Soll und Haben war zu schmerzhaft geworden. Mit dem Niedergang des Sanatoriumsbetriebs beginnt aber erst die eigentliche Erfolgsgeschichte der literarischen Chiffre «Monte Verità».

 

Beginn eines Mythos

Nach einigen Jahren des Vergessens wurde der Monte Verità gleich mehrfach wiederentdeckt. Zunächst folgte eine Ära der literarischen Zweitverwertung nach dem Stille-Post-Prinzip: Sogenannte «Reiseverführbücher»3 mit Blick auf Ascona und seine Aussteiger finden sich ab den 1950er Jahren in beinahe jedem gutbürgerlichen deutschen oder deutschschweizerischen Nachkriegshaushalt. Sie sind hervorragende Beispiele dafür, wie sich Dichtung und Wahrheit produktiv vermischen lassen, denn die Autoren dieser Zweitverwertungen legten ausgesprochen wenig Wert darauf, zu deklarieren, was an ihren Stoffsammlungen nun Dichtung (sprich: Hörensagen) und was Empirie ist. Das spielte auch eine untergeordnete Rolle, denn den Südsehnsüchtigen nördlich der Alpen konnten sie ein feines Päckchen aus Aussteiger-, Gegenwelt- und Italienromantik verkaufen: Zu den Geschichten um ehrenhaft scheiternde Idealisten, verschrobene Nudisten und wirre Rohkosteiferer gaben sie einen Schuss Südsee (exotische Pflanzen, vulkanartiges Relief), einen Schuss Naivität (verlorenes Paradies) und später auch noch die idealisierte Bohème. Eingerührt wurde später ausserdem die eine oder andere Theorie um magnetische Anomalien4 tief unter dem nahen Gebirge – und selbstverständlich stets eine Menge «Dolce Far Niente». Der mit dieser völlig unzuverlässigen Melange breitenwirksam gestreute Mythos vom «Berg der Wahrheit» und der ihn umgebenden «Reformkulturlandschaft» brachte Ascona während mindestens drei Jahrzehnten touristischen Ruhm: die Hoteldichte nahm rasant zu, die Gäste kamen scharenweise – vor allem aus Deutschland, wo Opel nicht umsonst sein Mittelklasseflaggschiff nach dem Örtchen benannte.

 

Reformkulturlandschaft mit Patina

Ein kleiner Fleck am Lago Maggiore war jenseits seiner physisch-geographischen Realität von Schriftstellern und Photographen zu einem «sakralen Ort» jenseits der Karte gemacht worden. Ob der – weiterhin anhaltende – literarische Zuschreibungsdiskurs dem geographischen Ort allerdings gut tut, ist mehr als fraglich. Vielleicht höhlt er ihn auch aus: Wer heute durch die Gassen Asconas oder über den Monte Verità schlendert, den beschleicht das Gefühl, dass hier, zwischen Boutiquen, Pizzerien und sich den Hang hinauftürmenden Flachdachvillen, nie wieder Gegenwelten erdacht und entdeckt, geschweige denn auf die Beine gestellt werden. Vielleicht ist es also wirklich an der Zeit, am Borgo, direkt neben dem monströsen 5-Sterne-Hotel Eden Roc5, einige unbeheizte Holzhütten zu installieren und zumindest die Baudirektion zu vermehrter Gartenarbeit an Ort und -Stelle anzuhalten. Es kämen wohl einige interessante Gäste und Besucher – nicht zuletzt, um über dieses utopische Laboratorium zu schreiben.

 


1 Erich Mühsam: Ascona. Locarno: Carlson, 1905; Reprint: Guhl, Berlin 1978.
2 Hermann Hesse: In den Felsen. Notizen eines Naturmenschen. In: Materialien zu Hermann Hesses «Siddhartha». Bd. 2. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975.
3 Z.B. Jonny Riegers «Ein Balkon über dem Lago Maggiore», Curt Riess’ «Ascona – Geschichte des seltsamsten Dorfes der Welt» (neu aufgelegt 2014) und Jakob Flachs «Ascona gestern und heute».
4 Dokumentiert schon in Harald Szeemanns «Monte Verità – Die Brüste der Wahrheit» von 1978, aber bis heute verwendet, u.a. in Urs Mannharts Titel «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola» oder in den Anpreisungen des Literaturfestivals «Eventi letterari» 2013, 2014 und 2015.
5 Rezension eines bekannten Schweizer Schriftstellers bei TripAdvisor: «Well, there are places that inspire poetry, places where one feels that there is a reason for being there. Unfortunately, Eden Roc Hotel in Ascona is not one of these places. Let us describe the room (we were booked into a suite), in all its splendid awkwardness: Sea foam green wall-to-wall carpets, burnt orange wicker chairs, pretentious cherry-wood tables on monstrous, painted striped stone vases, umbrellas attached to the wall (for sale, 25 swiss francs), the layout rather useless; wooden and gypsum room dividers with no rhyme or reason, separating the sections of the suite into atomized, functionless entities, the view of Lago Maggiore interrupted by parking lots, other balconies, more balconies and the quite numbing architecture of a sixties hotel renovated in 2005 in the style of 1988. The general feel of a cruise ship fallen on hard times permeates all. The lobby is filled with pseudo-tuscan revivalist marble art, perhaps made in Guangzhou, late nineties or thereabouts. There must be more to life than this.»

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Hôpital de Prangins, Haute-Rive, photographiert von Claudia Mäder.
An den Gestaden des Genfersees

Nach Prangins kommen heute bestenfalls ein paar Kulturtouristen, um das Nationalmuseum zu besuchen. Einst aber gaben sich hier internationale Literaturberühmtheiten die Klinke in die Hand – um sich oder ihre Liebsten in Dr. Forels Privatklinik behandeln zu lassen. Ein Ausflug ins Waadtland und ins Leben dreier Frauen.

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