Norbert Gstrein:
«Eine Ahnung vom Anfang»
Es bleibt immer ein fehlender Rest. Es gibt immer ein nicht benennbarer und doch fühlbarer Teil in jeder Biographie, und wer versucht, zurückzufinden zum Ursprung einer Entwicklung, wer Ausschau hält nach Zeichen des Anfangs, wird immer an Grenzen stossen. Mit was wir uns zufrieden zu geben haben, ist «Eine Ahnung vom Anfang».
Die Leerstelle, Norbert Gstrein bezeichnet sie in einem Interview als «leere Mitte», ist der Ort, den er literarisch bevorzugt und umkreist, um ihn, wie er sagt, als «Wunde» kenntlich zu machen. Und Wunden, Verwundungen – auch tödliche – gibt es in seinem Buch gleich mehrere. Doch wo sie herkommen, warum sie grösser und quälender werden – und dann, eines Tages, nicht mehr zu ertragen sind –, diese Fragen bleiben offen. Antworten werden gesucht, drängend und rastlos, werden gefunden für kurze Zeit, wieder verworfen und wieder von neuem gedreht und gewendet.
War es Daniel, ehemaliger Gymnasialschüler und Bester seiner Klasse, der in der Tiroler Provinzstadt für Angst und Schrecken sorgt? Kam die Bombendrohung im Bahnhof der Stadt von ihm? Hat er auf einen Zettel, den man in einer mit Kabeln gefüllten Tasche in der Toilette fand, die Zeilen geschrieben: «Kehret um!», «Erste und letzte Warnung!», «Beim nächsten Mal wird es ernst!»? Ist er es, der auf dem grobkörnigen Bild einer Überwachungskamera, inmitten einer Menschenmenge, eingekreist, kenntlich gemacht werden soll? Anton, Daniels früherer Deutschlehrer und Ich-Erzähler des Romans, hält die Zeitung mit dem Photo in der Hand, und in seinem Kopf – wie im Herz – beginnen sich Erinnerungsbilder zu regen. Es sind Bilder, die einerseits gut verschnürt, anderseits lose im Gedächtnis schlummern. Aber so oder so, sie beweisen ein Stück gelebtes Leben, ein stückweise gelungenes, ja glückliches Leben.
Norbert Gstreins aktueller Roman ist ein Buch der Rückschau auf die Zeit, die der Professor und der Schüler geteilt haben. Nicht in der Schule, sondern draussen, im Haus – oder besser in der Hütte – am Fluss. Dort, abseits der Stadt, haben Daniel und sein Freund Christoph den Lehrer in seiner Freizeitstätte aufgesucht. Was zunächst eher zufällig geschah, wird in der Folge zur Regelmässigkeit und in den Ferien zum Daueraufenthalt. Die jungen Männer werkeln am Haus, im Garten, sie schwimmen – und sie lesen. Anton, der Deutschprofessor, wiederholt während des Zusammenseins mit Daniel, was er über Jahre gutmeinend für Robert, seinen Bruder, getan hat – bevor dieser sich das Leben nahm: er versorgt ihn mit Literatur, mit Büchern zuhauf, vor allem aus der Zeit des Existenzialismus. Und Daniel tut, was Robert tat, er liest und liest und verschlingt eins ums andere. Er stellt die Welt in Frage, er ringt um eine Gottesvorstellung, er erliegt einer Sinnkrise. Er verweigert das Leben, nur um zu leben. Dann fällt er einem amerikanischen religiösen Eiferer in die Fänge. Droht ihm Roberts Schicksal, so brütet Anton, der sich «aus der Welt hinausgelesen» hat?
Sind Bücher gefährlich? Vermögen sie es, den Boden unter den Füssen Lesender ins Wanken zu bringen? Können sie zu Mord und Totschlag, zu Terror verleiten? Norbert Gstrein wäre nicht, nach eigenem Bekenntnis, der «Poetik der Skepsis» verpflichtet, böte er Erklärungen an, Rezepte – Wahrheiten. Sie bleiben ungefunden. Was sich sagen liesse zur Frage, woher sie kommen, die Verwirrungen, die Verblendungen, Versehrtheiten und Verwundungen, wäre eine Antwort, der möglicherweise auch Norbert Gstrein zustimmen würde. Sie kommen vom Leben – von je einzelnen Lebensbedingungen, wie sie in seinem überragenden Buch nachzulesen sind.
Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom Anfang. München: Hanser, 2013.