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Bin ich eine Exotin?

Ich besitze ein Smartphone und auch andere Accessoires des 21. Jahrhunderts. Meine Leidenschaft aber ist eine scheinbar unzeitgemässe: Ich fische nach Worten. Macht mich das zur Lyrikerin? Was ist überhaupt ein Gedicht? Und sind diese Fragen eigentlich wichtig?

Bin ich eine Exotin?
Claire Plassard, photographiert von Michael Wiederstein.

Ich bin immer etwas befremdet, wenn ich an einer Lesung mit «Dichterin» oder «Lyrikerin» vorgestellt werde. Dichterin, Lyrikerin, die Setzung eines Substantivs, das verleiht mir dann bereits eine Identität, ein «Wesen als…». Essentialistisch Aufgeladenes ruft bei mir Skepsis hervor. Ich sage lieber: Ich schreibe. Wenn es jemand genauer möchte: Ich schreibe Gedichte. Nur, was sind Gedichte? Als ich den Auftrag erhielt, für diese Zeitschrift einen Essay über Poesie zu verfassen, habe ich mir eine Millisekunde lang überlegt, verschiedene Enzyklopädien aufzuschlagen und Definitionen heranzuziehen. Um beschreiben und verstehen zu können, was ich eigentlich mache, wenn ich meine Worte so setze, wie ich sie eben setze. Ich habe es unterlassen. Eigentlich sollte ich die Antwort auf die Frage sowieso kennen. Ich habe ja mal in die Richtung studiert. Geblieben von damals ist mir, dass Gedichte aus Versen bestehen, sprich aus Zeilen, die in Enjambements zerspringen, manchmal unvorhersehbar, immer unwiderruflich. Der Rest ist ziemlich vage. Ich bin nicht in der Lage, Poesie oder Lyrik genauer zu definieren, geschweige denn einen Unterschied zwischen ihr und anderen Texten festzusetzen. Oder ehrlicher: Ich bin nicht willig, es zu tun. Wahrscheinlich war ich schon auf der Vorlesungsbank mehr damit beschäftigt, Worte von den Menschen, den Gegenständen und der Stimmung im Raum abzublättern, um sie auf meine Heftrückseite zu kritzeln. Zur Entstehung eines Wortgebildes von Eindrücken in Herz und Hirn, welches man später «Gedicht» nennen würde.

Ich schreibe also Gedichte. Ich schreibe Gedichte als junge Frau, die der Zwanzig näher als der Dreissig ist, sowohl über einen Internetanschluss als auch über ein Smartphone verfügt und sich auch sonst nicht bedeutend von ihren Zeitgenossen im 21. Jahrhundert unterscheidet. Ich schreibe Gedichte aus Liebe zum einzelnen Wort. Aus Liebe zu seinem Gewicht, das es wie einen Stein in das Meer in mir hineinsinken lässt. Ich muss es wie eine kostbare Murmel in meinem Mund drehen wollen, es mit meinen Lippen formen, in die Luft hauchen, Rauchringen gleich, immer und immer wieder. Ich klopfe es in meinem Sprechen und Schreiben auf seinen möglichen Gehalt ab. Es scheint mir, dass man den einzelnen Worten viel mehr Bedeutung verleiht, wenn man sich kurz hält. Vielleicht ist es genau dieses Bedeutungsvolle, das in jeder Knappheit liegt oder sich dort zumindest offensichtlicher einbrennt, das mich so anzieht.

Es sind einzelne Worte, die mich anspringen und befallen, die abperlen von den Gegenständen, den Eindrücken und den Menschen, die mich umgeben. Es handelt sich dabei um Worte, die mich treffen. Offensichtlich treffen sie nicht nur mich selbst, sondern auch das, was ich sehe, höre, fühle, schmecke. Sie geben meinen Sinneseindrücken eine sprachliche Fassung.

Wenn ich dichte, dann fische ich Worte. Wieso ich das so nenne? Weil ich nicht der Sorte Mensch angehöre, die leicht schreibt. Ich schreibe nie einfach drauflos, oder wenn, dann zumindest nicht erfolgreich. Schreiben ist ein K(r)ampf. Ich schiebe Worte umher, reisse sie auseinander, füge sie zusammen, mische ihre Stellung im Satz wie ein anderer die Karten beim Jassen – und lasse sie nicht selten unverrichteter Dinge zurück. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als am Fluss auf die Fische zu warten: Oft lasse ich die Angel über Tage und Wochen im Gewässer hängen. Gehe derweil anderen Tätigkeiten nach. Und wenn es dann doch einmal an der Angel zieht, muss ich mich mit aller Kraft gegen die Flossenschläge stemmen, um nicht in einer reissenden Wortflut zu ertrinken. In einer Flut, die durchaus existentielle, physische Auswirkungen hat. Der ich mich nur mit Mühe entziehen kann. Etwas passiert mir, wenn die Fische kommen.

Diese Fische sind oft Augenblicke. Momentaufnahmen, die etwas loslösen und gleichzeitig die Erfahrung von Endlichkeit tief in mich hineingraben. Gedichte schreiben ist mir ein Versuch, die Flüchtigkeit des Moments aufs Podest zu setzen. Sie zu feiern, wenn ich sie schon nicht physisch festhalten kann. Wahrscheinlich ist es ein tiefstes Sehnen nach dem Verweilen, das mich Worte setzen lässt. Ein Vorgaukeln von Stillstand, ganz im Wissen und der Akzeptanz der eigentlichen Unmöglichkeit dieses Vorhabens. Wenn es mir schon versagt ist, den Moment festzuhalten, seiner Endlichkeit Einhalt gebieten zu können, dann will ich ihn wenigstens besonders betonen oder betont haben, indem ich ihn in Worte packe oder gepackt habe. Um ihn dann mit mir, in der Abgeschlossenheit eines Gedichts, herumzutragen.

Bin ich unzeitgemäss, weil ich Gedichte schreibe? Eine Exotin? Ich weiss es nicht. Und es ist mir auch nicht wichtig. Ich bin der Ansicht, dass Gedichte den Nerv der Zeit genauso zu treffen vermögen wie andere literarische Gattungen. Dies schon aus dem einfachen Grund, weil uns unsere Welt pausen- und atemlos von einem an den anderen Ort hetzen lässt, schnelle Entscheidungen erfordert und die Kurzlebigkeit in ihr ständig betont. Einerseits würden sich also poetische Kurzbetrachtungen, die man en passant lesen kann, bestens mit der gegenwärtig tonangebenden Knappzeitlogik ergänzen. Anderseits wären aber ein bewusstes Sichhinsetzen mit einem Gedichtband, das Zuhören und Lesen an sich eine Kampfansage an ebendiese Kurzlebigkeit, mit der sich so viele so schwer tun. Wieso ist also das Lesen eines Gedichts – trotz seiner oftmaligen Kürze – vielen Zeitgenossen eine zu schwere Kost?

Nicht selten hat das mit schlechten Schulerfahrungen zu tun. Mit der Erinnerung an schreckliche Interpretationsanweisungen von noch schrecklicheren Lehrpersonen, die ihren Schülerinnen und Schülern eintrichterten, wie ein bestimmtes Gedicht zu verstehen sei – und warum nur so, nicht anders. Ich hatte diesbezüglich grosses Glück. Und Narrenfreiheit. Es standen Personen im vorderen Drittel des Klassenzimmers, die mich begeistern konnten und mir zugleich Lust wie Mut machten, mich auf meine eigenen poetischen Entdeckungsreisen zu begeben. Gedichte wurden für mich auf diesem Wege nicht unzeitgemäss – sondern zeitlos. Und nicht selten deshalb auch von einem unfassbaren Wert, ob gelesen oder selbst geschrieben. Gedichte, oder Worte und Zeilen aus Gedichten, sind mir kleine Diamanten, gestohlen aus der Flüchtigkeit des Gegenwärtigen. Diese kleinen Diamanten, die ich mir in den Saum genäht habe, narren das Unaufhaltbare. Sie geben mir das schelmische Gefühl, steinreich zu sein. Vor allem sind sie mir treue Begleiter durch alle Tage hindurch. Nadeschda Mandelstam hat ihren Mann an Stalins Schergen verloren, aber seine Gedichte konnte ihr keiner nehmen. Jede einzelne Zeile von Ossip hat sie in ihrem Gedächtnis aufbewahrt. So dass wir sie noch heute lesen und lieben können.

Vielleicht wache ich eines Morgens auf und weiss, dass ich keine Gedichte mehr schreiben kann oder will. Sollte es irgendwann tatsächlich so sein, dass mein Gang an den Fluss aussetzt und die Angel vermodert am Wasser, dann werde ich damit leben können. Dann wird das letzte Wort im Unwissen darüber, dass es das letzte ist, gesetzt worden sein. Diesem Wort wird dann eine doppelte Bedeutung zukommen. Erstens, weil es in einem bedeutungsdichten Textgewebe, nämlich dem Gedicht, erscheint – und damit schon seines Standorts wegen ein besonderes Gewicht hat. Und zweitens, weil es wirklich das allerletzte Wort ist. Eines, das ich gern im Mund gedreht, mit den Lippen geformt, in die Luft gehaucht habe, Rauchringen gleich.

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Claire Plassard, photographiert von Michael Wiederstein.
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