Brief aus dem Tessin (cinque)
Dieses Jahr gehen die Schweizer Literaturpreise 2016 in der italienischsprachigen Schweiz an Massimo Gezzi und Giovanni Fontana. Massimo Gezzi wurde 1976 in Sant’Elpidio a Mare, in den Marken, geboren und lebt heute als Lehrer in Lugano. 2015 erschien unter dem Titel «Il numero dei vivi» sein jüngster Gedichtband, mit dem er in Italien auch den […]
Dieses Jahr gehen die Schweizer Literaturpreise 2016 in der italienischsprachigen Schweiz an Massimo Gezzi und Giovanni Fontana. Massimo Gezzi wurde 1976 in Sant’Elpidio a Mare, in den Marken, geboren und lebt heute als Lehrer in Lugano. 2015 erschien unter dem Titel «Il numero dei vivi» sein jüngster Gedichtband, mit dem er in Italien auch den prestigereichen Premio Carducci gewonnen hat und in dem er, wie ein passionierter Abenteurer, die poetische Parabel weiterführt, die er 2009 mit «L’attimo dopo» begann. «Breve pazienza di ritrovarti» von Giovanni Fontana, geboren 1959 in Mendrisio und ebenfalls Lehrer, ist ein inspiriertes Buch mit acht Erzählungen, in deren Mittelpunkt zwei grosse Themen stehen: Krankheit, vor allem im psychischen Sinn, die je nach Erzählung unterschiedlich zum Ausdruck kommt, und: Erinnerung. Es geht ums eigene Gedächtnis, das die Protagonisten oft in eine undurchdringliche, kindliche Welt einschliesst.
Und dann – wie ein heftiges Sommergewitter, fernab von Preisen oder Anerkennungen – hat der Verlag Armando Dadò in Locarno ein quälendes, schmerzhaftes Buch publiziert: «I giorni e la morte» von Remo Beretta, geboren 1922 in Leontica, natürlich: auch Lehrer, gestorben 2009 in Lugano. In diesem 1960 und 1961 verfassten Buch, das fast fünfzig Jahre in irgendeiner Schublade lag, geht es um einen Todesfall oder, besser, es ist die Erzählung eines «Sterbens», wie Fabio Soldini in seiner gelungenen Einführung schreibt: «Der Grund, der Beretta dazu bewegt hat, zur Feder zu greifen, war eine persönliche Tragödie, (…), der Verlust seines noch jungen Bruders Sandro.» Ein leidvolles, wie von selbst entstandenes Buch, der bewegende Bericht einer Krankheit in einer kräftigen, körperlichen Sprache, die der schönsten eines Pavese oder raffiniertesten eines Gadda nahe ist. Das Buch hat das Zeug zum Klassiker – die Tessiner Literatur ist also innerhalb weniger Monate um mehrere ausgezeichnete Werke reicher geworden, in jeder Hinsicht.
Andrea Bianchetti
ist Dichter und arbeitet als Kritiker für RSI (Rete Due). Er ist auch Redaktor der Literaturzeitschrift «Cenobio» und lehrt Italienische Literatur an verschiedenen Tessiner Gymnasien. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Sauser.