Das Alberne, Schöne und Traurige dazwischen
Der Weg von der ersten emotionalen Eruption in Textform bis zum begeisterten Verleger ist lang. Nachwuchsautorin Regina Dürig hat ihn gerade hinter sich.
Ein Gedankenaustausch über Mut, Melancholie und das Meer.
Frau Dürig, im Herbst erscheint Ihr erstes Buch «Katertag. Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht». Vor kurzem haben Sie in Deutschland mit Ihrem Manuskript den «Goldenen Pick» gewonnen. Um was geht es?
Um den fünfzehnjährigen Nico, dessen Vater alkoholkrank war. Inzwischen macht dieser einen Entzug, doch Nico hat das Vertrauen in ihn verloren. Um sich von seinem Vater zu distanzieren, schreibt Nico einen Brief, in dem er die letzten zwei Jahre aus seiner Perspektive schildert. Es geht dabei um die Wiederaneignung der eigenen Geschichte, um Ungeheuerlichkeiten, aber es geht auch um das Alberne, Schöne und Traurige dazwischen.
Klingt nach Sozialkritik – dennoch haben wir es hier nicht mit den vielthematisierten Alkoholikern, Vergewaltigern und Prügelknaben zu tun, die das TV-Nachmittagsprogramm «bereichern». Wie umschiffen Sie das Klischee?
Es geht mir um den Alkoholismus, den es auch in glücklichen, nach aussen gut funktionierenden Familien gibt. Weil er gesellschaftlich
gedeckt und daher schwer zu erkennen ist. Das Buch spielt in
einer gut situierten, ziemlich liebenswerten Familie. Dann bricht langsam alles auseinander und jeder versucht auf seine Weise, sich richtig zu verhalten – und alle scheitern dabei gleichermassen. Beim Schreiben habe ich versucht, den Standpunkt aller Figuren ernst zu nehmen.
Schreiben ist ein gutes Stichwort. Sie arbeiten an einem Institut, in dem kreatives Schreiben per Studiengang vermittelt wird. Das klingt nach einem Widerspruch: wenn man Kreativität institutionalisiert, wie kann sie dann einzigartig und spontan sein?
Diese Frage scheint unvermeidlich zu sein, obwohl ich sie nicht ganz begreife. Wo ist der Unterschied, ob man Kunst oder Literatur studiert? In beiden Fällen geht es um eine institutionalisierte Ausbildung, die zum Ziel hat, die Studierenden in der Entwicklung einer künstlerischen Haltung und Praxis anzuleiten und zu begleiten. Weshalb soll das in der Literatur ein
Widerspruch sein, während es in der bildenden Kunst seit Jahrhunderten so funktioniert? Das Literaturinstitut ist keine
«Romanbauschule», wo es eine fertige Form für das Endergebnis gibt, die dann möglichst schön nachgeahmt werden muss.
Ich frage mich bloss, ob und wie angehende Schriftsteller ihren Beruf in Kursen und Vorlesungen erlernen können. Wie kamen denn Sie dazu, literarisch zu schreiben?
Auf Umwegen. Zunächst war mein Berufswunsch, Werbetexterin zu werden. Das schien mir als 18jähriger der einzig plausible Weg, Existenzsicherung mit meinem Interesse am Schreiben zusammenzubringen. Dass Werbung keine Literatur ist, war mir klar, aber nicht so wichtig. Um Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation mit Schwerpunkt Text zu studieren, bin ich dann nach Berlin gezogen. Dort begann ich auch, ein paar kurze Texte bzw. emotionale Eruptionen, die sich in Text manifestierten, zu schreiben. Ein paar dieser Arbeiten habe ich meinem damaligen Freund gezeigt. Er fand sie gut. Ich habe ihm nur halb geglaubt und mich nicht getraut, sie jemand anderem zu zeigen. Erst später kam der Wunsch, mich näher mit dem literarischen Schreiben auseinanderzusetzen. Mit drei Kurzgeschichten habe ich mich dann am Schweizerischen Literaturinstitut beworben.
Sie haben überzeugt. Wissen Sie, womit?
Nein. Es wurde nur erzählt, dass mein Aufnahmegespräch das war, bei dem am meisten gelacht wurde. In Bezug auf das Dossier könnte ich mir vorstellen, dass es vielleicht meine Haltung war: ich wusste, dass ich am Anfang war und auf der Suche. Und: ich wollte etwas finden, unbedingt. Ich habe die Bewerbungstexte schon ewig nicht mehr angeschaut, aber ich nehme an, dass schon dort in der Sprache ein Ansatz zur Reduktion und Präzision zu finden ist. Hoffentlich.
Jetzt haben Sie viele Stationen des eigenen Lebensweges aufgezählt, ein literarisches Erweckungserlebnis fehlt aber in der Liste. Erinnern Sie sich noch an den ersten literarischen Text, auf den Sie stolz waren?
Ich weiss nicht, ob ich überhaupt schon mal uneingeschränkt stolz war auf irgendetwas. Manchmal bin ich aber zufrieden. Zum ersten Mal war das bei einem Text der Fall, den ich während des zweiten Studienjahrs geschrieben habe. Darin ist es mir plötzlich gelungen, eine Geschichte zu erzählen, die die Leser berührt hat. Es kam darin der Satz vor (okay, vielleicht doch ein bisschen stolz): «Bei Tag kann man da hinten das Meer sehen. Bei Nacht sieht das Meer uns.»
Das ist Melancholie. War diese Interpretation von Ihnen als Autorin beabsichtigt – oder haben Sie einfach aufgeschrieben, was Ihnen durch den Kopf ging?
Im Idealfall hat alles, was dasteht, eine Notwendigkeit. Ich finde diese beiden Sätze schön, weil sie die ganze Geschichte enthalten. Es geht um eine flüchtige Begegnung zweier Menschen, die vielleicht etwas mit dem jeweils anderen anfangen könnten, wenn sie nicht in den Konsequenzen ihres Lebens verstrickt wären. Die Hauptfigur ist sehr melancholisch. Das ist vielleicht nicht gerade die beste Überleitung, aber: wir können uns übrigens auch duzen, wenn Sie wollen.
Das wollte ich dir schon vor ein paar Tagen anbieten. Also: Du, Victor Hugo soll gesagt haben: «Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein.» Als Antrieb spielt die Melancholie für viele Autoren eine erhebliche Rolle. Bist du ein melancholischer Mensch?
Ist Traurigsein, zumindest wenn es ein Vergnügen ist, nicht hauptsächlich Selbstmitleid? Mich macht es eher wütend, wenn ich feststelle, dass ich meine Zeit mit kleinlichen Verletztheiten vergeude. Letztes Jahr habe ich ein biographisches Schreibprojekt in einem Frauenhaus betreut – das sind traurige Lebensgeschichten und trotzdem sind die Betroffenen selten melancholisch, im Gegenteil. Ich bin eher ein pragmatischer Mensch. Kannst du denn das schöne Zitat mit einem Plädoyer für die
Melancholie retten? Bitte?
Melancholie ist als Moment, nicht als Dauerzustand, gesunde Verdrängung und Verarbeitung. Du ziehst dich also für eine Weile aus dem Alltag zurück, in bessere Zeiten, in ein explosives Gebräu aus Verlust und Hoffnung. Aus diesem Spannungsfeld lässt sich literarisch viel ziehen: Hermann Hesse sass nachmittags in Montagnola im Garten und hat einsam grübelnd Feuerchen gemacht. Und am Abend bejammerte er seitenweise, dass er eigentlich in dieser Zeit eine schöne Frau hätte kennenlernen sollen. Schlecht für Hesses Liebesleben, gut für diejenigen, die auf der ganzen Welt zwischen 14 und 20 ihre Hermann-Hesse-Phase durchleben.
Die Hesse-Phase hatte ich nie. Ich erinnere mich noch an die Schulbesprechung von «Unterm Rad» und daran, dass mich das Buch furchtbar aufgeregt hat. Irgendwie hatte ich es damals schon nicht so mit dem überbewerteten inneren Drama. Oder ich war zu sehr mit meinem eigenen beschäftigt. Ich hatte aber dafür zwischen 15 und 18 eine exzessive Max-Frisch-Phase.
Obwohl dich also das «innere Drama» nicht interessiert, hast du herausgefunden, wie du Gefühle weckst. Das ist essentiell
für eine Geschichtenerzählerin. Hast du eine Art literarische Strategie entwickelt?
Es gibt, aus dem Drehbuchschreiben glaube ich, eine Faustregel, die «Kill your darlings» heisst. Sie besagt, dass man Stellen, die einem zwar gefallen, aber die Geschichte nicht voranbringen, weglassen sollte. Bei mir findet eher eine generelle Reduktion statt, eine Suche nach dem, was wirklich zentral ist und trägt. Als Strategie formuliert, wäre das dann vielleicht «Kill». Naja, das ist jetzt ein bisschen prätentiös. Eher: Ich versuche, so zu schreiben, dass die Gefühlsentscheidungen beim Leser liegen. Was war das letzte Buch, das dich auf eine Art berührt hat, die du nicht erwartet hättest?
Christian Krachts «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten». Kracht baut das Unheilsszenario eines seit 96 Jahren andauernden Zweiten Weltkriegs aus – mit an Tolkien erinnernden Figuren, «ergänzter» Schweizergeschichte und gar noch
Science-Fiction. Bestandteile und Genres, mit denen ich eigentlich wenig anzufangen weiss. Ich war und bin aber begeistert.
Das habe ich nicht gelesen – leider, in Anbetracht deiner Kurzrezension. Ich kann nur zu «Faserland» sagen: als mir das in die Hände gelangte, kurz vor dem Abitur, nach zwölf Jahren deutschen Klassikern und 18 Jahren Leben in der Provinz, hat
es mich umgehauen. Die Erfahrung, dass so etwas in einem adrett gestreiften Hardcover-Buch stehen konnte, warf alles über den Haufen, was ich über Literatur angenommen hatte. Ich war begeistert und sehr, sehr neugierig auf die Welt da draussen.
Einen exklusiven Vorabdruck aus Regina Dürigs «Katertag. Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht» lesen Sie im Herbst im «Schweizer Monat».