Das Jahr des Countdowns
übersetzt von Barbara Sauser
1.
Sie ist eine der wichtigsten europäischen Verbindungsrouten. Früher beging man sie zu Fuss oder auf dem Rücken eines Esels, später fuhr man mit Karren und Kutschen, dann mit der Eisenbahn, durch den zwischen Airolo und Göschenen auf einer Höhe von 1150 Metern gebauten Tunnel, dann mit dem Auto auf der Fahrstraße und schliesslich durch den parallel zum Eisenbahntunnel verlaufenden Autobahntunnel. Die letzte Aktualisierung dieser transalpinen Verbindungsroute heisst – durch eine Umkehrung sozusagen einen Gangwechsel markierend – AlpTransit, was zugleich der Name des Projekts und derjenige der mit der Realisierung beauftragten Firma ist.
Ein Slogan der Firma lautet «Die erste Flachbahn durch die Alpen». Es ist ein unaufgeregter Slogan, linear wie die Strecke, von der die Rede ist, aber doch sehr griffig. Auf die einfachste aller Arten löscht er eine ganze Bergkette aus – indem er sie ignoriert. Oh, die Macht der Worte! Von diesem effizienten Slogan angespornt, bekommt man zum Beispiel Lust, über eine «Bergbahn durch die Niederlande» zu reden, aber die Mineure und Arbeiter, die Tag und Nacht auf der AlpTransit-Baustelle geschuftet haben und immer noch schuften, sehen das vielleicht anders.
Tatsache bleibt, dass jedem Tunnel eine bestimmte Menge Ausbruchmaterial entspricht und dasselbe unterschiedliche Gestalt annehmen kann, unter anderem eben die eines künstlichen Bergs, und das lässt sich analog auch auf anderes übertragen, bis hin zur Astrophysik – übertragen und auch umkehren. Nehmen wir zum Beispiel den Bahnhof Milano Centrale, nicht die riesige Gleisüberdachung aus Eisen und Glas, sondern die Eingangshalle, die Fahrkartenschalter, die Fassade zur Piazza Duca D’Aosta. Nur wenige wissen, dass es als Gegengewicht zu diesem Bahnhof einen ebenso monumentalen Antibahnhof gibt. Er befindet sich zwischen Saltrio und Viggiù, am Monte San Giorgio. Von dort kommt der Stein, mit dem man die Stazione Centrale gebaut hat, oder wenigstens einen Teil davon. Man muss sich einen riesigen unterirdischen Steinbruch vorstellen, sich im Dunkel verlierende unbehauene, unregelmässige Säulen.
Was ist ein Antibahnhof? Ein Bahnhof, an dem Antizüge und Antipassagiere ankommen und abfahren, an dem man Antikaffees trinken, Antizeitungen kaufen und Antinachrichten lesen kann, die nebenbei bemerkt sehr tröstlich sind.
2.
Arten, einen Berg zu überwinden:
1) hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinuntergehen (mit den oben genannten oder anderen Mitteln, etwa einem Kanalsystem, wie es der Ingenieur Pietro Caminada zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorschlug);
2) ihn umgehen (im Fall einer ganzen Bergkette schwierig);
3) ihn mit einem Flugzeug, Helikopter, Heissluftballon o.ä. überfliegen;
4) ein Loch machen und durch ihn hindurchgehen.
Die letzte Methode scheint auf den ersten Blick die unsinnigste zu sein, berücksichtigt man aber, dass das Loch für eine enorme Anzahl Durchfahrten bestehen bleiben könnte, und denkt man insbesondere an die Waren, am ihr Gewicht und ihre Trägheit, dann sieht die Sache anders aus.
3.
Ich besitze einen Reiseführer von 1909, eine Taschenausgabe mit kleinen Schwarzweissfotos. Wenn ich ihn zur Hand nehme, stosse ich immer auf etwas Interessantes. Etwa eine Landkarte, auf der Bellinzona als wahre Hauptstadt Europas erscheint, oder, in der Ecke eines Fotos, als wäre er nicht der Kompagnon des Fotografen, sondern ein zufälliger Statist, ein Mann mit Schnurrbart, Melone und Spazierstock; oder einen Satz wie zum Beispiel: «Im Mai 1880, am 28. Februar, erfolgte der Gotthard-Durchstich, und im Mai 1882 weihte man in Mailand und Luzern feierlich die grandiose Alpenbahn ein.»
Ist es nicht etwas waghalsig – das wäre hier das Interessante –, mit diesen Worten ein Unternehmen zusammenzufassen, das über 200 Arbeiter das Leben kostete, diejenigen nicht mitgezählt, die erst zu Hause an einer Krankheit starben? Man arbeitete unter Extrembedingungen, es kam zu Streiks und Aufständen, bei Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften wurden Arbeiter getötet … Es sei denn, man behalf sich damals mit «grandios» und «feierlich», um all das anzudeuten.
Auch mein Urgrossvater Battista Gervasoni arbeitete auf dieser Baustelle. In seinen Aufzeichnungen beschreibt er den Durchschlag der Hauptröhre folgendermassen: «Seit mehreren Tagen ging das Gerücht um, die Mineure des Vortriebs hörten von der Nordseite her die Schläge der Bohrmaschinen. Darauf eilten die Ingenieure mit ihren Geräten herbei und stellten mit unbeschreiblicher Freude fest, dass die Scheibe zwischen den beiden Enden nur noch wenige Meter dick war. Man liess Bohrstangen unterschiedlicher Länge anfertigen und konzentrierte sich auf ein Loch, bis die Scheibe schliesslich mit der sechs Meter langen Bohrstange durchbohrt wurde, zur nicht geringen Überraschung des Personals auf der Nordseite, das plötzlich den von der Südseite her kommenden Eisenstab vor sich sah. Ein grosses Rufen brach aus: Der Gotthard ist durchbrochen!» Und dann: «Die zur Beratung zusammengetretenen Respektspersonen beschlossen, als erstes die Fotografie des grossen, bereits vor diesem Ereignis unglücklich verstorbenen Louis Favre passieren zu lassen.»
Der Ingenieur und Unternehmer Louis Favre, der den Zuschlag für den Tunnel bekommen und sich verpflichtet hatte, das Werk innerhalb von acht Jahren zu vollenden, war sieben Monate zuvor auf der Göschener Seite während eines Baustellenbesuchs an einem Herzinfarkt gestorben. Die Bauarbeiten waren im Rückstand, und Favre hatte weniger Licht am Ende des Tunnels als vielmehr eine sich ankündigende finanzielle Katastrophe gesehen, die später auch über seine Erben hereinbrach. Aber er war der erste, der den Tunnel durchquerte: auf einem Foto. Eine Art magisches Ritual. Man errichtete eine Rednerbühne, Vertreter der beteiligten Nationen reisten an, um, wie mein Urgrossvater ohne Ironie schrieb, wie ich glaube, «Sermone zu halten und Erinnerungsmedaillen zu verteilen». Und so fährt die grandiose Alpenbahn 133 Jahre später immer noch, auch wenn man sie bald auf eine Regional- oder Touristenbahn zurückstufen wird, falls die Unterhaltskosten nicht ihre definitive Schliessung besiegeln.
4.
Bald dürfen wir den neuen Gotthard-Basistunnel einweihen. Eine vor beinahe zwanzig Jahren nach Jahrzehnten der Planung und Abklärung, Jahrzehnten technischer und politischer Diskussionen begonnene Baustelle. Damals muss es eine Vision gegeben haben. Eine bestimmte Vorstellung von Europa und der Zukunft, die inzwischen um Einiges trüber geworden ist.
Am Bahnhof von Bellinzona zeigt eine Digitaluhr an, wie viele Tage, Stunden und Sekunden es bis zur Inbetriebnahme der neuen Infrastruktur noch dauert. Ein Spielzeug. Man schaut sie an und begreift nicht. Was sollen wir eigentlich erwarten?
Heute nehmen wir den Tunnel als Resultat eines allgemeinen Prozesses der Beschleunigung des Waren- und Personenverkehrs wahr. Eines Prozesses, der vom menschlichen Willen genauso unabhängig ist wie die Kontinentalverschiebung. Ich weiss nicht, was die Politiker in ihren «Eröffnungssermonen» sagen werden. Vielleicht: «Sieh mal an, ein 57 Kilometer langer Tunnel!», und insgeheim werden sie sich fragen, ob man nicht besser in die Glasfasertechnologie investiert hätte. Oder sie nutzen die Gelegenheit und inszenieren einen kolossalen Werbespot über die Schweizer Präzision, die Schweizer Technologie, die Schweizer Zuverlässigkeit und Effizienz. Seht her, was wir können! Ein neuer Tunnel für das Guinness-Buch der Rekorde!
Heute jedenfalls, im Mai 2015, sind die Vertreter der Alpeninitiative, eines Vereins, der sich für die Verlagerung des Warenverkehrs von der Strasse auf die Schiene einsetzt, anscheinend die Einzigen, die wenigstens noch die Erinnerung an eine Vision bewahrt haben. Das wäre die Aufgabe der Flachbahn: Die Rettung der Berge vor den Lastwagen voller Obst und Gemüse, Öl und Erdöl, Computer und Handys, Kleidungsstücke, Ikea-Möbel, Eternitplatten mit oder ohne Asbest, fabrikneuen Autos, Salamis und Würste, Goldbarren, Medikamente, Schlacken und Abfälle aller Art … Die Liste würde lang werden, man müsste sie sich von Zollbeamten geben lassen, und um sie auszudrucken, bräuchte man stapelweise Papier.
Aber sicher werden auch wir uns darüber freuen, dass wir so schnell nach Zürich fahren können und von dort weiter nach Paris oder Berlin, immer im Zug und ohne die Strapazen an den Flughäfen. Dasselbe gilt aus nördlicher Richtung – Lago Maggiore, Mailand, Rom: auch Geschäftsreisen natürlich, aber vor allem vorgezogene Frühjahre und aufgeschobene Winter. Wer weiss, ob wir die Vision, an die wir uns gegenwärtig nicht mehr erinnern, dann nicht wieder in aller Deutlichkeit vor uns sehen werden, vielleicht eine leuchtende Vision, die diesem Bauwerk eine dem ganzen Aufwand angemessene kulturelle und politische Bedeutung verleihen wird.
5.
In den Erinnerungen Battista Gervasonis findet sich der Bericht einer Gotthardüberquerung im Jahr 1878, vom Norden nach Süden und ohne Geld. Er war dreiundzwanzig. In Flüelen sprach er den Postkutscher an und erklärte ihm seine Situation. «Dieser empfahl mir, den Sack bis Airolo aufzugeben und zu Fuss weiterzugehen. Sobald mich die Kutsche einholen würde, sollte ich auf das hintere Trittbrett aufspringen und eingangs der Dörfer wieder absteigen und zu Fuss weitergehen, bis mich die Kutsche von neuem einholen würde und ich meinen Platz auf dem Trittbrett wieder einnehmen könnte.»
Mit etwas Geduld, ein paar Krämpfen und Frostbeulen fanden sich immer Wege und Mittel.
6.
Den Eröffnungssermon müsste man O. zugestehen. O. weiss alles über AlpTransit, er hat diesbezüglich einen Fimmel, und wenn du ihm Gehör schenkt, rasselt er alle Zahlen aus den Infobroschüren herunter, die man den Einwohnern der Anrainergemeinden seit Jahren verteilt.
Wie schnell werden die Güterzüge durch die neuen Ceneri- und Gotthardtunnel fahren? Und die Passagierzüge? Fragt O., er weiss es. Um wie viele Kilometer und wie viele Stunden wird die Strecke Chiasso-Basel kürzer? Fragt O., er weiss es. Die Anzahl der Sicherheitsstollen zwischen den beiden Hauptröhren? Fragt O., er weiss es. Das Gesamtgewicht des Ausbruchmaterials, desjenigen, das für die Niederlande bestimmt ist? O. weiss es und er schüttet es liebend gern über euch aus, wenn ihr ihm im Foyer des Heims, in dem er lebt, begegnet und unvorsichtig genug seid, ihn anzusprechen.
Jetzt, da ich es geschrieben vor mir sehe, merke ich, dass das O, die Abkürzung seines Namens, nichts anderes ist als die Tunnelmündung.
7.
Ich bin vor weniger als zehn Jahren nach Bellinzona gezogen. Ich wurde hier geboren, habe aber nie hier gelebt. Einmal fand ich auf dem Flohmarkt eine Werbebroschüre aus alten Zeiten mit dem Slogan: «Bellinzona, die ideale Stadt für Kurzaufenthalte», und ich erinnere mich, dass ich ein bisschen beleidigt war. Erst kürzlich hergezogen, hatte ich vor, ein paar Jahre zu bleiben. Dann gelangte ich zur Überzeugung, dass man den Slogan im existenziellen Sinn auffassen musste, als Anspielung auf die Vergänglichkeit des irdischen Lebens, und das beruhigte mich: Ich war am richtigen Ort.
Manchmal werde ich gefragt, wie es ist, in Bellinzona zu leben, also faktisch «in einem Kaff wie Bellinzona». Mir ist klar, dass manche Herren und Damen von Welt nie auf den Gedanken kämen, an einem so beengten Ort zu wohnen, wo der Blick gegen die Hänge der Berge stösst, die im Winter dazu noch fast schwarz werden, sodass nur tief vorbeiziehende Nebel und Wolken von ihrer düsteren Präsenz erlösen können.
Bisweilen antworte ich, dass der Ort absolut ideal wäre, wenn es eine Station der Pariser, Londoner oder Berliner U-Bahn gäbe. Mit Mailand oder Zürich sind wir fast soweit, und was andere Städte im Norden betrifft, wird die neue Bahn auf jeden Fall eine Annäherung bedeuten. Und damit meine ich auch und vor allem eine Annäherung in der Wahrnehmung, denn ein Tunnel, wenn er so lang und gerade ist wie diejenigen von AlpTransit, ist einem Fernrohr ähnlich: Das, was sich auf der anderen Seite befindet, rückt optisch näher. Und wenn wir es mit einem doppelröhrigen Tunnel zu tun haben, dann verfügen wir über ein gigantisches Fernglas.
Na, und was siehst du?
Ich sehe die Möwen der Ostsee, ich sehe den Hafen von Amsterdam und die Schornsteine des Ruhrgebiets, ich sehe den Fernsehturm von Berlin mit den Touristen, die im Drehrestaurant frühstücken, ich sehe die Rheinfälle, und, noch näher, die Löwen im Zoo von Zürich.
Und was noch?
8.
Unter einem ingenieurtechnischen, aber auch illusionistischen Gesichtspunkt ist der Streckenabschnitt zwischen Giornico und Rodi-Fiesso der faszinierendste der gesamten alten Linie, mit seinen berühmten Kehrtunneln, die Biaschina und Piottino heissen und in Wirklichkeit doppelt sind, beide Male zwei Tunnel, die spiralförmig je rund fünfzig Meter überwinden und dabei einen vollständigen Kreis beschreiben, vier Kehrtunnel also, ganz so, als drehe man sich mit verbundenen Augen um sich selbst, man verliert die Orientierung, die Spirale kreist und kreist und transportiert die Passagiere übergangslos von einer Bewusstseinsebene in eine andere, Evolution und Regression. Ich weiss auch nicht, was das Bewusstsein damit zu tun hat, geschweige denn die Evolution und die Regression, aber da mir die Begriffe nun mal aus der Feder geflossen sind, lasse ich sie stehen, vielleicht hängt das Ganze mit meiner Art zusammen, mit den Gedanken um die Dinge zu kreisen, und dieser anderen Form von Gedanken, dem Schreiben.
9.
Es war in den Tunneln des Monte Piottino, wo Battista Gervasoni an einem Bein verletzt wurde und zwei Zehen verlor. Während er sich um die Bohrmaschinen kümmerte, besuchte der englische Schriftsteller Samuel Butler, der Autor von «Erewhon» und «Erewhon revisited» die Dörfer und Kirchen des Tals, unterhielt sich mit den Bauern, nahm es gemütlich und schrieb und zeichnete in seine Notizbücher, was er sah – und hörte. So auch diese Zeilen, die sich direkt an uns, die Nachwelt, zu richten scheinen: «Bestimmt werden unsere Nachfahren in hundert Jahren nicht mehr an das geschützdonnerähnliche Getöse denken, an das wir heute gewöhnt sind. (…) Kaum ist der Piottino still, eröffnet die Biaschina das Feuer, und manchmal schiessen sie beide gleichzeitig. Für unsere Nachfahren wird es vielleicht interessant sein zu wissen, dass eine andere unangenehme Eigenheit unserer Zeit in der Vielzahl der Steine bestand, die bis in scheinbar weit ausserhalb ihrer Reichweite liegende Ecken flogen. Zwischen Giornico und Lavorgo zum Beispiel explodierten ohne Unterlass Minen, und es war erstaunlich, welche Höhen die Steine erreichen konnten. Zur Dämpfung ihres Aufpralls bedeckten die Dorfbewohner die Hausdächer mit Holzbündeln und Reisig.»
10.
In Butlers «Alps and Sanctuaries of Piedmont and the Canton Ticino», das 1881, kurz nach der Eröffnung des Tunnels, veröffentlicht wurde, riss ich auch bei folgender Passage die Augen auf: «Hundert oder mehr Meter oberhalb des Flusses, im Schatten der Tannen, sah ich eine Ameisenstrasse, die in beiden Richtungen quer über den Weg führte; und von da an habe ich sie jedes Jahr an der gleichen Stelle wiedergefunden. An einer Stelle habe ich beinahe den Eindruck, der Stein sei leicht ausgetreten vom ständigen Hin und Her Tausender kleiner Beine.»
Warum ich wegen dieser Ameisen die Augen aufgerissen habe? Weil ich sie kenne!
Als Kind verbrachte ich die Sommerferien in Varenzo, einem Ortsteil von Quinto, den man vom Zug aus gut sieht, weil die Bahnlinie direkt daran vorbeiführt, und ich begleitete meinen Grossvater oft auf seinen langen Spaziergängen durch die umliegenden Tannenwälder, oder vielleicht begleitete er mich. Ich rede von meinem Grossvater Aldo, dem siebten oder achten der zwölf Kinder Battistas. Wenn er haltmachte, um auf einem Klappstuhl die Zeitung zu lesen oder sich auszuruhen, studierte ich die Ameisenstrassen, die in grossen Ameisenhaufen aus trockenen Tannennadeln, Nadel um Nadel aufgeschichtet, zusammenliefen. Man kann die Ameisen nur schlecht studieren, ohne sie ein wenig zu stören, man muss ihnen also das eine oder andere Hindernis in den Weg legen, Löcher graben, oder, wenn es in der Nähe einen Bach gibt, einen Kanal bauen, vielleicht ein Seelein stauen.
Heute frage ich mich: Welche Erinnerung können Ameisen an ihre Ameisenhaufen haben? Wo sind die Pläne ihrer Gänge eingeschrieben, ihre Architektur?
Von oben betrachtet, so wie man eine Modelllandschaft betrachtet, durch die ein elektrisches Züglein mit Transportfirmenlogos auf Miniaturgüterwagen fährt, könnte man sagen, dass die Ameisen in Vergessenheit operieren. Während sie für den Ameisenhaufen arbeiten, ein endloses, nie zum Abschluss kommendes Bauwerk, vergessen sie denselben ständig, schieben ihn von sich weg und verschieben ihn auch physisch.
11.
Wenn man nach etwa sieben Minuten in Göschenen oder Airolo wieder aus dem Gotthardtunnel kam und die Sonne schien, wurde man geblendet, und diese Erfahrung war noch viel intensiver, wenn die Alpenlandschaft – denn man befand sich wirklich mitten in den Alpen, auf über tausend Metern – tiefverschneit war. Das Licht am Ende des Tunnels weitete sich, es ging so rasch auf, dass die Pupillen sich nicht genug schnell zusammenziehen konnten und wie ein Film überbelichtet wurden. Nebenbei bemerkt dient dieser Effekt zu Zeiten der Super-8-Kameras als Sujet diverser kinematografischer Versuche, auch von meiner Seite. Die Filme wurden zweifach überbelichtet: zuerst beim Tunnelausgang und dann, wenn sie im Projektor hängenblieben, von der Lampe.
12.
Während Jahrhunderten bildeten die berühmten Burgen von Bellinzona zusammen mit den Stadtmauern, die das Tal abschlossen, eine imposante Befestigungsanlage. Auf der einen Seite konnten Langobarden sein, auf der anderen Franken, oder auf der einen Mailänder mit den Visconti oder Sforza, und auf der anderen Schweizer aus den sogenannten Urkantonen. Eine solche Befestigung ist eine Art Zeitmaschine. In seinem Essay «Die imaginäre Festung» schreibt der italienische Autor Daniele Del Giudice: «Die wahre Waffe der Befestigungsanlage war also die Verspätung, die Erzeugung von Langsamkeit, das Ausdehnen von Zeit bis zu ihrer Unschädlichmachung.»
Schauen wir uns also Bellinzonas Tourismus-Slogans an. Die Zeiten der «idealen Stadt für Kurzaufenthalte» sind vorbei, wohingegen sich der Zusatz «patrimonio Unesco dell’Umanità» in der Burgenstadt bisher noch zu halten vermag, trotz der inflationären Menge an Wörtern mit dem Anfangsbuchstaben U. Mit dem AlpTransit-Countdown scheint sich «Bellinzona – das Tor zum Tessin» oder sogar «zum Süden» durchzusetzen. Für Bahnreisende Richtung Norden künftig nicht mehr brauchbar ist hingegen die Idee eines Bellinzona als Tor zu den Alpen, eher wird man von Tor zum Tunnel reden müssen: Eine Kleinstadt mit Blick auf einen derart langen Tunnel, dass dieser sie stets einzusaugen droht. Ein Tunnel ist und bleibt – trotz künstlicher Beleuchtung – ein schwarzes Loch.
Interessanterweise ist auch die neue Bahninfrastruktur, ganz wie die Burgen, eine Art Zeitmaschine. Während die Burgen jedoch Langsamkeit erzeugten, erzeugt der Tunnel genau das Gegenteil! Man muss sich die beiden Bauwerke einmal gleichzeitig in Betrieb vorstellen: Bellinzona würde zu einem Knotenpunkt der Langsamkeit in einem Hochgeschwindigkeitskorridor. Das soll nicht bedeuten, dass wir uns hier in Bellinzona auf der einen oder anderen Seite der Stadtmauern in Stellung bringen sollen. Nein, es soll weder aufgeteilt noch abgewehrt, vielmehr soll aufgehalten und empfangen werden, um die Aggregation und Integration von Vielfalt zu fördern, was die Amerikaner melting pot nennen und unter anderem zu viel guter Musik geführt hat.
In diesem Sinne böte sich ein neuer Slogan an, nicht absurder als seine Vorgänger: «Bellinzona, die Musik der Zukunft».
13.
In Erwartung des melting pot möchte ich die folgende Episode festhalten. Im Zug Richtung Mailand bittet eine Afrikanerin einen etwa siebzigjährigen Deutschschweizer, ihr den Platz freizugeben, und zeigt ihm die Reservation. Der Mann weigert sich aufzustehen, zieht ihr die Fahrkarte aus der Hand und reisst sie in Stücke. Ihm gegenüber sitzt seine Frau, nickend, wie um zu sagen: Ja, Fritz hat Recht, wir sind schliesslich hier zu Hause und denken nicht im Traum daran, uns von diesen Sitzen wegzubewegen, die wir mit unseren Schweizer Hintern angewärmt haben. Ganz wie im Wahlslogan der Lega dei Ticinesi: «Herr im eigenen Haus sein.» (Ja, ich weiss, ich nehme Slogans gern ein bisschen zu wichtig, man hat es mir schon gesagt.) Die Afrikanerin protestiert, man sieht, dass sie empört ist: bastardi, bastardi, aber auch: Ich bin eine Mutter, ein Ausdruck, der so verwendet, zur Verteidigung ihrer Würde, andere Kulturen evoziert. Ich erinnere mich, damals gedacht zu haben, dass Fritz’ Frau, wenn sie Mutter gewesen war, was ja vermutlich der Fall war, in diesem Moment wirklich überhaupt nichts Mütterliches mehr an sich hatte, verkrampft wie sie war in ihrer dummen Boshaftigkeit. Ist sie einmal Mutter gewesen, hat sie es vergessen. Hätte sie einmal Mutter sein können – jetzt nicht mehr. Dann kommt der Zugbegleiter und versucht auf Schweizerdeutsch die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.
Die Afrikanerin: «Sprechen Sie bitte Italienisch!»
Der Zugbegleiter auf Italienisch: «Wir sind in der Schweiz!»
Die Afrikanerin: «Eben!»
14.
Und jetzt lasst mich eine kleine Geschichte erzählen, die für mich etwas mit dieser Landschaft zu tun hat und vor allem mit der Vergessenheit, die sie zu umhüllen scheint. Heute mehr denn je, weil die Geschwindigkeit für Entfremdung und genau diese Vergessenheit sorgt, für das Gefühl eines Verlusts – wessen, weiss man nicht – oder einer verpassten Begegnung – mit wem oder was, weiss man auch nicht.
Ein alter Mann besteigt in Lugano den Zug, einen Cisalpino Mailand-Zürich, richtet sich in einem Viererabteil ein und sieht, dass ihm gegenüber ein anderer alter Mann sitzt, der eingenickt ist, und als er ihn genauer anschaut, erkennt er ihn: ein Freund aus Kindertagen, den er schon lange nicht mehr gesehen hat. Er will ihn wecken, sie müssen einander alles erzählen, sie müssen feiern, nur schon, dass sie in ihrem Alter überhaupt noch am Leben sind, wer hätte das gedacht, aber dann beschliesst er, ihn ruhen zu lassen, die Reise ist lang.
Nach dem Ceneritunnel gleitet man von oben in die Magadinoebene hinunter, dann sieht man die Burgen von Bellinzona, Granitsteinbrüche, Garagen und Autowerkstätten, Hochspannungsmasten, Pferdeweiden. Schon wird das Tal enger, und bald ist die schwindelerregendste Autobahnbrücke der Schweiz da, man sieht sie aus verschiedenen Blickwinkeln und fährt unter ihr hindurch; dann rechts die steilste Standseilbahn Europas, oben befindet sich eine Art Paradies, und schliesslich kommt der Tunnel, der früher einmal der längste der Welt war oder zumindest einer der längsten, 15 Kilometer durch den Fels gegraben, mit Mitteln, die uns heute primitiv erscheinen.
Als der zweite alte Mann aufwacht, sieht er, dass ihm gegenüber ein anderer alter Mann sitzt, der eingenickt ist. Er schaut ihn genauer an und erkennt ihn: ein Freund aus Kindertagen, den er schon lange nicht mehr gesehen hat. Er will ihn wecken, aber auch er kennt das Gewicht des Alters, hat Erbarmen und beschliesst zu warten.
Die Berge bröckeln ab, heute ein Bergrutsch, morgen einer, und am Schluss kommt alles herunter, trotz der Schutzmauern, der Strebemauern aus Stahlbeton und der Eisennetze. Da ist die Kirche von Wassen, man sieht sie dreimal aus drei verschiedenen Blickwinkeln, ein Schauspiel, das man seinen Kindern zeigt, und die Kinder zeigen es ihrerseits ihren Kindern, der Zug gerät in die Umlaufbahn des Kirchturms und kommt nur mit Mühe wieder von ihr los. Schneeflecken, sprudelnde Bergbäche, Wasserfälle, an die Berghänge geklammerte Ställe und Heuschober. Autos und Lastwagen sausen talauf- und abwärts, auf dem Zementband, das sich neben der Eisenbahn entrollt. Der Fluss wird breiter, das Tal wird breiter. Der Vierwaldstättersee, Bauernhöfe inmitten von Wiesen, Obstbäume, kleine Wohnblöcke, Fabriken, Lagerhallen.
Als der Lautsprecher schliesslich Arth-Goldau ankündigt, schreckt der erste alte Mann aus dem Schlaf hoch, er will nach Basel und muss umsteigen, er packt den Koffer, stürzt aus dem Wagen und sieht gerade noch, wie der zweite alte Mann mit offenem Mund und an der Scheibe klebender Wange davonfährt.
15.
Ich treffe Peter Weber in der Birreria Bavarese, Bellinzonas wahrem Bahnhofbuffet, wobei der Bahnhof im Moment eine einzige Baustelle ist, das historische Gebäude eingerüstet und daneben der Aushub für die unterhalb des Haupteingangs vorgesehenen Läden. Von unserem Tisch im Freien aus haben wir einen guten Blick auf die Leuchtziffern, die den Countdown von AlpTransit anzeigen: Heute ist der 12. Mai, es ist zwei Uhr nachmittags und es dauert noch 578 Tage, 9 Stunden, 54 Minuten und 22 Sekunden bis zur Eröffnung der Flachbahn. Ein Projekt dieser Tragweite braucht eine gewisse Emphase, und diese wird hier durch die Stunden, Minuten und Sekunden erreicht. Wobei immer die Gefahr droht, dass man einen gegenteiligen Effekt erhält.
Auch Peter denkt über diese Themen nach und schreibt darüber. Wir sprechen über die Dinge, die er auf der Bahnfahrt von Zürich her gesehen hat und über die, die in wenig mehr als anderthalb Jahren wie ausgelöscht sein werden, der Wahrnehmung der Gotthardreisenden entzogen. Peter zeigt mir einen Bahnreiseführer aus den Siebzigern – auf dem Cover eine lachende, aus dem halb offenen Fenster schauende Familie – und sagt, dass man damals auf der gleichen Strecke andere Dinge sah, und zwar nicht nur, weil die Landschaft anders war und die Autobahn noch nicht gebaut und es noch keine Lärmschutzwände, keine Schallisolierung gab, sondern auch, weil die Augäpfel und Halswirbel der Passagiere noch anders reagierten und man, wie uns das Cover des Reiseführers in Erinnerung ruft, eben noch aus den offenen Fenstern schauen konnte, ungeachtet des warnenden Metallschilds mit der Aufschrift NICHT HINAUSLEHNEN.
In hundert Jahren werden unsere Nachfahren, also die Nachwelt von Samuel Butlers Nachwelt, kaum glauben können, dass man bei der Durchquerung der Alpen einst den Kopf aus dem Fenster strecken konnte. Man kam etwas benommen am Ziel an, mit einem steifen Hals und zwei geröteten Augen, das stimmt, aber es hatte auch etwas Abenteuerliches und beflügelte die Fantasie insbesondere derjenigen, die noch Kinder waren und dabei an irgendeinen Fernsehwestern dachten.
16.
Zwei Wochen nach dem Treffen mit Peter im Bavarese besuche ich die AlpTransit-Website und werde dort mit folgender Ankündigung empfangen: «Noch 374 Tage bis zur Eröffnung.» Moment, denke ich, vor 12 Tagen waren es doch noch 578, und jetzt 374? Entweder habe ich nicht richtig verstanden, wovon die Rede ist, oder wir sind nun schon in das Zeitalter der Hochgeschwindigkeit eingetreten, in dem jeder Tag offenbar fast zwanzig wert ist.
Jedenfalls prüft man, so die Website, im Gotthard-Basistunnel inzwischen schon die Bahntechnik: «Mit hunderten von Zugfahrten testen die AlpTransit Gotthard AG und die SBB das Zusammenspiel aller Tunnelkomponenten auf Herz und Nieren. Erst wenn alles rund läuft, erteilt der Bund die Betriebsbewilligung» (wobei die italienische Version hier mit einer consecutio temporum aufwartet, die einer Prüfung auf Herz und Nieren nicht standhalten würde).
In der Leventina hat man die Arbeiterbaracken schon vor Längerem abgerissen. Die Mineure sind mit ihrer Erfahrung irgendwohin entschwunden. Desgleichen ein Teil der Techniker und Ingenieure. Auf dem Finanzmarkt werden sich die Profite der beteiligten Grossunternehmen, etwa des Zementkonzerns Holcim, schon verdoppelt, vervierfacht, vielleicht auch verzehnfacht haben. Auch Battista Gervasoni befand sich bereits im Norden Frankreichs, als man im Mai 1882 in Mailand und Luzern «feierlich die grandiose Alpenbahn einweihte». Und was machte er dort? Ich gebe seine Aufzeichnungen wieder: «Ich begab mich nach Lugano, um Einkäufe zu tätigen. Mittags betrat ich ein Restaurant und bekam eine französische Zeitung in die Hände, in der ich las, dass in Sangatte gerade Kompressoren installiert wurden, die die Bohrmaschinen für den Tunnel unter dem Ärmelkanal mit Druckluft versorgen sollten. Ich beschloss kurzerhand, hinzufahren.» Und weiter: «Als Gesamtlänge der Tunnel waren 58 Kilometer vorgesehen, d.h. 38 Kilometer unter dem Meer und auf beiden Seiten je 10 Kilometer an die Oberfläche ansteigende Tunnel. (…) Für den Aufwärts- und Abwärtstransport der Personen und des Materials hatte man eine leistungsfähige Winde installiert, die mit einer Dampfmaschine betrieben wurde und ein Seil hatte, das sich auf die Rollen derselben aufwickelte. An seinem Ende war ein Kasten befestigt, in den man Material und Personen verlud. Das Ganze war eine so primitive und dazu ungesicherte Anlage, dass ich bei den ersten Fahrten buchstäblich zitterte. Das war an den ersten Tagen, später gewöhnte man sich daran, alle Angst verschwand und man benutzte dieses Transportmittel seelenruhig.»
Zum Glück (für mich, sonst wäre ich vielleicht nicht hier und könnte es erzählen) wurden die Arbeiten bald unterbrochen, und Battista reiste nach La Réunion im Indischen Ozean, in der Tasche ein in Paris unterzeichneter Vertrag mit der auf der Insel tätigen «Compagnie du chemin de fer et du port». Für die Reise bediente er sich der beiden grossen Bauwerke dieser Jahre: Zuerst der Gotthardbahn, wobei ihn der Fuss mit den infolge des Unfalls im Piottino-Tunnel amputierten Zehen jetzt nicht von der Pflicht entband, eine Fahrkarte zu lösen, und dann des Suezkanals, der ein Dutzend Jahre früher eröffnet worden war.
Was den Tunnel unter dem Ärmelkanal betrifft, erfolgte die Einweihung 112 Jahre später: Es ist nicht nur so, dass die Tage mittlerweile viel schneller vergehen, wie uns der AlpTransit-Countdown zeigt, sondern auch, dass die Welt schrumpft, wurden doch aus den 1882 vorgesehenen 58 Kilometern 1994 50 Kilometer.
17.
Spätabends ist der Zug leer, was bleibt, sind Zeitungen zwischen den Sitzen, deutsche, italienische, französische, englische, manchmal mit dem Stempel einer Fluggesellschaft. Zeitungen, zerknittert wie Hemden nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag oder einer Interkontinentalreise. Ich stosse auf folgende Nachricht: «Projekt Gotthard 2100 präsentiert. Ein internationales Expertenteam, dem unter anderem Forscher des CERN in Genf und des Instituts für biomedizinische Forschung in Bellinzona sowie Ingenieure und Manager von Google Inc. angehören, schlägt Alarm: AlpTransit wird bereits in weniger als einem Jahrhundert überflüssig und unzweckmässig sein. Angesichts der Zeit, die nötig ist, um eine neue Infrastruktur auszuarbeiten und umzusetzen, fordert das Expertenteam die Schweizerische Eidgenossenschaft und die Europäische Union auf, umgehend die nötigen Mittel für eine Aufnahme der Vorarbeiten bereitzustellen.»
Eine in einem Geisterzug gelesene oder geträumte Nachricht.
18.
Psychologen und Neurowissenschaftler haben versucht, die Dauer der Gegenwart zu messen. Das, was wir als «jetzt» bezeichnen und im aktuellen Moment erleben, scheint ungefähr drei Sekunden auf der Uhr zu entsprechen. Innerhalb dieser drei Sekunden könne unser Gehirn aufgrund der Zeit, die es für die verschiedenen Prozesse zur Verarbeitung der erhaltenen Reize und für ihre Synthese benötige, die Kategorien Vorher und Nachher nicht mehr unterscheiden oder neige, genauer gesagt, dazu, sie zu vermischen. Drei Sekunden: Das ist die Schwelle, die erreicht werden muss, wenn man jetzt auf der Südseite der Alpen sein will und jetzt, gleichzeitig, auf der Nordseite.
Der vorliegende Artikel ist die längere Version eines Texts, den Matteo Terzaghi im «Literarischen Monat» #21 veröffentlicht hat. Er korrespondiert mit dem im selben Magazin erschienen Text «Die Polyfräse» von Peter Weber.