Das Schweigen der Meisen
Franz Friedrich: Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2014.
«Die Stunde der wahren Empfindung», «Der Schatz Rackhams des Roten» oder «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» – oft zeigt schon der Titel eines Buchs an, was dessen Figuren umtreibt. Ebenso, aber noch etwas kryptischer, verhält es sich mit «Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr», dem Debütroman des 31jährigen Franz Friedrich. Als Leser kommt man diesen Meisen gemeinsam mit der Figur eines jungen Filmemachers auf die Spur, der auf einen Dokumentarfilm aus den 1990er Jahren stösst. Darin war die Regisseurin Susanne Sendler dem damalig plötzlichen Verstummen von Meisen auf einer finnischen Kleininsel nachgegangen. Über den Grund des aussetzenden Gesangs konnten sich Ökologen, Verschwörungstheoretiker und Apokalyptiker nicht einigen; unheimlich genug erschien es der finnischen Regierung aber jedenfalls, um die Insel vorsorglich zu evakuieren. Nur eine Handvoll Vogelkundler lebt seither dort – und Kapitän Lindros, der mit seinem Boot die Verbindung zum Festland sicherstellt. Auch ihn befragt Sendler in ihrer Doku zu den Meisen: «Die Kamera blieb auf den Kapitän gerichtet. Aulis Lindros runzelte die Stirn, als wollte er sich an etwas erinnern, das sehr weit zurücklag, und spitzte seine Lippen: Dju – dju – dju – dju – dju.»
Ähnlich merkwürdig geht es weiter, wenn man den jungen Filmemacher im Jahr 2017 wieder antrifft: Aus dem Goetheanum in Brüssel wird gerade die Einführung eines Grundeinkommens für alle Bürger Kerneuropas verkündet – die EU ist offenbar zerbrochen, die verbleibenden Bündnisstaaten sind einer Art Öko-Absolutismus verfallen und die Wirtschaftskrise schwelt noch immer. Solche Science-Fiction-Elemente streut Friedrich gekonnt beiläufig ein, während sein Held nun in der Presse auf eine Randnotiz stösst: Die Vögel auf Uusimaa haben wieder zu singen begonnen. Trotz der dramatisch gestiegenen Kerosinpreise lässt er Freundin und Kind zuhause, bucht einen Flug nach Finnland – und ist mit seinem Meisen-Fimmel nicht alleine.
Zwei weitere Handlungsstränge umkreisen die Vögel: derjenige der Filmerin Sendler und jener einer von der Ausschaffung bedrohten amerikanischen Akademikerin. Bei ihrem Aufenthalt in Berlin vernimmt letztere immer wieder ätherische Choräle, die ebenfalls der Meisen-Mythologie entstammen. Nicht nur an diesen Gesängen hätte wohl auch Eichendorff seine helle Freude gehabt, sowohl das Konzept der fragmentierten Erzählperspektiven als auch die Sprache tragen romantische Züge: Das Eis auf dem Trottoir bildet «eine dünne, unebene Schicht, die an mundgeblasenes Glas erinnerte», die Freundin des Filmers atmet im Schlaf «lautlos und so vorsichtig, als wollte sie in dem kleinen Raum nicht unnötig Sauerstoff verschwenden». Mit seiner – trotz ihrer eigenwilligen Behutsamkeit flüssig lesbaren – Prosa untergräbt Friedrich den Fatalismus der heutigen Krisennarrative. Denn je näher man im Verlauf des Romans der Insel Uusimaa kommt, desto mehr wird man trotz der düsteren Zukunftsvisionen auch als Leser von der wunderlichen Begeisterung für die wieder singenden Meisen angesteckt.
Nach der Lektüre rennt man dennoch nicht auf die Strasse, um den Leuten entgegenzurufen: «Die Meisen von Uusimaa singen wieder!», denn Friedrich belässt die Meisenphantasmen seiner Figuren in der Schwebe zwischen Utopie und Aberwitz; er zieht dabei einen fast mythischen Horizont auf, ohne dabei seine Geschichte aus ihrer politisch brisanten Aktualität fallenzulassen. So erstaunt nicht, dass Friedrich mit seinem Debüt gleich beim renommierten S.-Fischer-Verlag landen konnte und neben dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung auch eine Nomination für den Deutschen Buchpreis erhalten hat.