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Michael Stauffer: «Ansichten eines alten Kamels»

Michael Stauffer:
«Ansichten eines alten Kamels»

 

Michael Stauffer schreibt nicht nur, er unterrichtet auch am Bieler Literaturinstitut. Angenommen, er hätte sich als Autor von «Ansichten eines alten Kamels» am Literaturin­stitut beworben. Welche Ratschläge hätte der lehrende Stauffer seinem dichtenden Alter Ego gegeben?

LEHRERSTAUFFER: (lehnt sich zurück) Herr Stauffer, Ihr Roman beginnt mit einer klassischen Herausgeberfiktion. Sie würden bloss die Notizen eines gewissen Henri Choffat veröffentlichen, heisst es. Das passt zur Identitätsthematik Ihres ­Romans. Bei Choffat handelt es sich um einen eher trägen Verwaltungsangestellten, dessen Leben eine Wendung nimmt…

DICHTERSTAUFFER: (verschränkt die Arme) …als er erfährt, dass sich irgendwo 22 genetische Choffat-Doppelgänger herumtreiben. Korrekt.

LEHRERSTAUFFER: Ein zwielichtiges «World Genetic ­Center» verspricht Choffat eine Pension, wenn er an seinem ­Lebenslauf schreibt. So zieht er sich als Frührentner ins Altersheim zurück. Der Traum eines jeden Schriftstellers.

DICHTERSTAUFFER: Das ist eine Unterstellung.

LEHRERSTAUFFER: Im kreativen Schreiben entscheiden zwei Faktoren, ob ein Roman gelingt: die psychologische Tiefe der Figuren und die Überzeugungskraft des Konflikts. Der Grossteil Ihres Buches besteht aus Anekdoten aus dem Seniorenheim und dem Leben Choffats, der seine Lebensbeschreibungen zeitweise an seine Mitbewohner outsourct. Ein praktischer Aufbau, ermöglicht er Ihnen doch, auf den roten Faden zu verzichten.

DICHTERSTAUFFER: Choffat weiss nicht mehr, wer er ist. Da kann es keinen roten Faden geben.

LEHRERSTAUFFER: Ich habe Ihr Werk ausserdem vergeblich nach einem Konflikt abgeklopft. Choffat handelt nicht. Er lässt sich treiben. Das Ganze endet in einem gesucht wirkenden Plottwist, auf den uns holzschnittartiges foreshadowing vorbereiten soll. Gewiss, da gibt es noch die Altersheimbewohner. Witzig, wie sie sich kiffend gegen die Verwaltung wehren oder ihre Ernährungsberaterin mit Bratwürsten bewerfen. Doch das Klischee der «resoluten Alten» ist vor Jahren von öffentlich-rechtlichen Sendungsanstalten zu Tode geritten worden. Daneben gleichen sich die verschiedenen Charaktere enorm. Ich konnte sie kaum unterscheiden.

DICHTERSTAUFFER: Ganz genau. Ein Stilmittel.

LEHRERSTAUFFER: Gutes Stichwort. Bereits auf den ersten Seiten stiess ich auf eine Häufung abgedroschener Wendungen. Hier fördert ein Spaziergang «Unglaubliches zutage», dort ­«lecken» Flammen an einem Dach. Dan Brown wäre stolz.

DICHTERSTAUFFER: Alles Satire!

LEHRERSTAUFFER: Farblose Phrasen wie «Die Spülmaschine und der Kühlschrank haben moderne Muster» regen überdies mein Vorstellungsvermögen nur schwerlich an.

DICHTERSTAUFFER: Sie finden…?

LEHRERSTAUFFER: (nickt) Mit dem Identitätsthema ist Ihr Buch zwar sehr aktuell – gerade heute, wo jeder fünf digitale Abbilder sein Eigen nennt. Doch leider ist die Handlung zu willkürlich und die Sprache zu verkrampft witzig. Sie scheinen sehr produktiv zu sein, Herr Stauffer – jedes Jahr versuchen Sie sich an mindestens einem neuen Roman. Nehmen Sie sich doch einmal mehr Zeit. Gut Ding will bekanntlich Weile haben.

Michael Stauffer: Ansichten eines alten Kamels. Dresden: Voland & Quist, 2014.

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