Editorial #14
Liebe Leserinnen und Leser Der Begriff der «Zeitenwende» ist überstrapaziert. Trotzdem fällt mir für die folgenden Betrachtungen und Überlegungen kein besseres Label ein: Es findet eine «Zeitenwende» des Leseverhaltens statt. Eine, die ihren Namen aus mehreren Gründen verdient. Wovon rede ich? Vom rasanten Popularitätszuwachs der Lyrik! Nicht gleich abschalten: Der Gattung ist schon zu oft […]
Liebe Leserinnen und Leser
Der Begriff der «Zeitenwende» ist überstrapaziert. Trotzdem fällt mir für die folgenden Betrachtungen und Überlegungen kein besseres Label ein: Es findet eine «Zeitenwende» des Leseverhaltens statt. Eine, die ihren Namen aus mehreren Gründen verdient. Wovon rede ich? Vom rasanten Popularitätszuwachs der Lyrik! Nicht gleich abschalten: Der Gattung ist schon zu oft unbesehen eine gewisse «Schwere» attestiert worden, im Breitenmarkt ist sie wohl deshalb nie wirklich angekommen. Sie fristete ein Nischendasein, in dem sich bisher der Grossschriftsteller wie auch der «Verslischmied» wechselseitig ihrer konsequenten öffentlichen Nichtbeachtung versicherten. Aber: Diese Zustände gehören, wenn ich die Zeichen und Zeiten richtig deute, vielleicht bald der Vergangenheit an.
Dass zum Schaffen eines starken poetischen Kurztextes mehr Arbeit und Können gehört als zum zigseitigen Populärgeschwafel, sicherte der anspruchsvollen Lyrik stets einen Platz weit oben auf der künstlerischen Anerkennungsskala. Diesen Reputationsvorsprung macht sie hierzulande nun endlich auch gegenüber der Schweizer Gegenwartsprosa geltend: vor allem ambitionierten, umtriebigen Nachwuchskräften (wie Claire Plassard ab S. 7 und Michael Fehr ab S. 14) ist es zu verdanken, dass das verdichtete Schreiben sich seinen Platz im postmodernen Leserleben zurückerobert. Dutzende exklusive Poetentreffen jenseits des abgewetzten Literaturhaus-Linoleums, in ehemaligen Fabrikgebäuden, schummrigen Bars und auch die Organisation der Autoren in landes- und europaweiten Kollektiven eröffnen der zeitgenössischen Lyrik Horizonte jenseits jeder kunsttümelnden «Salonfähigkeit». Knapp darf sie sein, eingedampft, beobachtungsstark, pointiert, multimedial und experimentell. Und die Leser? Altmeister Joachim Sartorius (S. 10) behauptet, Lyrik sei die Gattung für hektische Zeiten. Ob zur Erbauung im Lesesessel, als Time-out in der Mittagspause oder als bewusste literarische Herausforderung jenseits der Newskultur. Ja, schon ihr Genuss emanzipiert vom Otto Normalleser – ganz nach dem Motto: Untypisch – und eben deshalb sexy.
Zeitenwende! Egal ob in der Schreibstube, in der Werbeagentur (S. 20), auf Twitter (S. 21), auf der Bühne, im Buchhandel oder auf der Couch: Dichtung hat wieder Zukunft. Klar, denn ohne sie wär’ «Zukunft» nicht mal denkbar.
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